Kein Prozess nach tödlichem Unfall in Gießener Ludwigstraße – Beschwerde eingereicht

Ein tödlicher Unfall in der Ludwigstraße in Gießen hat für die Verursacherin keine juristischen Konsequenzen. Die Mutter des Opfers will sich damit nicht zufrieden geben.
Gießen - Am 12. August 2020 gegen 21.30 Uhr fährt ein 20-jähriger Student mit seinem Fahrrad die Ludwigstraße hinunter. In entgegengesetzter Richtung ist zur gleichen Zeit eine Autofahrerin unterwegs. An der Kreuzung zur Liebigstraße biegt die Gießenerin links ab - und übersieht dabei den Radfahrer. Durch den Unfall wird der junge Mann derart schwer verletzt, dass er wenige Tage später in der Klinik verstirbt.
Noch heute erinnert ein weiß gestrichenes Fahrrad an den Unfall. Menschen, die sich für mehr Fahrradsicherheit im Straßenverkehr einsetzen, haben dieses »Ghostbike« aufgestellt. Gerichtlich wird der Unfall zumindest nach aktuellem Stand jedoch nicht weiter verfolgt. Die Staatsanwaltschaft Gießen hat ein möglichen Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eingestellt. Das bestätigt Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger auf Anfrage dieser Zeitung. Begründung: Der Unfall mit dem Radfahrer, der keinen Helm getragen habe, sei für die Pkw-Fahrerin kaum zu vermeiden gewesen. Alkohol sei nicht nachgewiesen worden. Weitere Angaben könne die Staatsanwaltschaft nicht machen, sagt Hauburger, da sich die Akten bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt befänden.
Gießen: „Uns geht es nicht um Rache. Uns geht es um Gerechtigkeit“
Dafür hat Manuela Schneider gesorgt. Sie ist die Mutter des verstorbenen Radfahrers, der für sein Tiermedizinstudium aus Sachsen nach Gießen gezogen war. Schneider hatte gegen die Entscheidung der Gießener Staatsanwaltschaft Beschwerde eingereicht. »Uns geht es nicht um Rache. Uns geht es um Gerechtigkeit«, betont sie. Ihrer Meinung nach ist die Begründung der Gießener Staatsanwaltschaft fehlerhaft gewesen. So habe in dem Schreiben, das sie von der Staatsanwaltschaft erhalten habe, gestanden, ihr Sohn sei in dunkler Kleidung unterwegs gewesen. »Das stimmt aber nicht«, betont Schneider und verweist auf ein Gutachten, wonach ihr Sohn eine Jeans und ein weißes T-Shirt getragen habe. Den Umstand, dass der 20-Jährige schnell unterwegs gewesen ist, will die Mutter nicht bestreiten und fügt an, dass er laut Gutachten zwischen 40 und 50 km/h gefahren sei. »Ein Radfahrer darf in Deutschland aber genauso schnell fahren wie es die Straßenverkehrsbehörde erlaubt«, betont sie.

Schneider sagt, die Unfallstelle zwei Abende später aufgesucht zu haben. Die Lichtverhältnisse seien gut gewesen. Und auch wenn ihr Sohn an seinem Rad ein LED-Licht genutzt haben sollte, das laut Straßenverkehrsordnung nicht zugelassen sei, hätte die Unfallverursacherin ihren Sohn sehen müssen. »Ein Zeuge, der hinter der Frau gefahren ist, hat ihn schließlich gesehen.« Er habe sogar gehupt, sagt Schneider. Die Straßenlaternen seien eingeschaltet gewesen, zudem müssten die Scheinwerfer des Autos die Kreuzung ausgeleuchtet haben. Selbst wenn die Sichtverhältnisse schlecht gewesen seien, hätte die Autofahrerin ihr Verhalten anpassen müssen, meint Schneider. In einer Gerichtsverhandlung hätten all diese Punkte geklärt werden können, sagt die Mutter. Zum Beispiel auch, ob die Beleuchtung am Rad ihres Sohnes nicht doch zulässig gewesen sei.
Nach tödlichen Unfall in Gießen: Mutter scheitert mit Beschwerde
Dass diese Punkte nicht vor Gericht geklärt werden, begründet Hauburger mit Verweis auf Paragraf 153 der Strafprozessordnung. Darin heißt es: »Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht.«
Die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt, die sich dem Fall nach der Beschwerde von Schneider annahm, hatte an der Entscheidung der Gießener Kollegen nichts zu bemängeln. »Die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass die Schuld der Beschuldigten als gering anzusehen ist, überschreitet nicht den der Staatsanwaltschaft eingeräumten Ermessensspielraum«: Mit diesen Worten zitiert Schneider die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft. Auch mit Blick auf das fehlende öffentliche Interesse gibt die Frankfurter Behörde den Gießenern Recht, fügt Schneider an. Demnach würde ein Verzicht auf Strafverfolgung weder das Vertrauen in das Gewaltmonopol des Staates erschüttern noch zu einem Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen.
Gießen: Weitere juristische Schritte nach Unfall in Ludwigstraße werden geprüft
Zudem hat die Generalstaatsanwaltschaft laut Schneider betont, dass Bäume die Kreuzung abgedunkelt hätten und auch helle Kleidung daran nichts hätte ändern können. Der fehlende Helm, die hohe Geschwindigkeit sowie die »Mängel am Fahrrad« hätten die Richter dazu bewogen, ihrem Sohn eine »erhebliche Mitschuld« an den schwerwiegenden Folgen zu geben, was gleichzeitig die Schuld der Autofahrerin mindere.
Für ihre Familie sei das alles nur schwer zu ertragen, sagt Schneider. Ihr Anwalt prüfe daher weitere juristische Schritte. »Uns wurde unser Kind genommen. Einer Schwester der große Bruder, den Großeltern der Enkel«, sagt die Mutter. »Wir haben lebenslänglich bekommen.« (Christoph Hoffmann)