Kult-Kellnerin in Gießen: Sie ist Vollprofi mit großem Herzen

Birgit Jung-Ruhl ist „die Mutti“ im „Justus im Hessischen Hof“ in Gießen – freundlich, liebevoll, nervenstark.
Gießen – Der ältere Herr ist nicht gut zu Fuß. »Ist unser Eckchen frei?«, ruft seine Frau vom Eingang her. »Natürlich, immer herein in die gute Stube«, sagt Birgit Jung-Ruhl und geleitet die Senioren an ihren Tisch. Sie weiß genau, was sie bestellen werden, und sie weiß, wie es um die Gesundheit der beiden steht. »Ich freue mich immer, wenn ich sie sehe, denn dann ist soweit alles in Ordnung«, sagt sie. An diesem Nachmittag findet im Biergarten ein Klassentreffen älterer Herrschaften statt, am Nebentisch sitzen einige Wanderer, außerdem zwei junge Paare, eine Dame ist alleine gekommen und gönnt sich ein Glas Wein. »Unser Publikum ist gemischt, bei uns kann sich jeder wohlfühlen«, sagt Jung-Ruhl.
Die 58-Jährige ist seit zwölf Jahren im »Justus«, sie kennt den Laden in- und auswendig. Eigentlich hatten der frühere Besitzer Dietmar Knöß und sie einander versprochen, dass sie gemeinsam in Rente gehen. Doch Knöß hat das Lokal im vergangenen Sommer an Thomas Schnitzler übergeben, der schon seit einigen Jahren im Team ist. »Ich gönne es ihm«, sagt die Kellnerin und lacht. Und mit dem jungen Chef kommt sie ebenfalls gut klar. »Das passt schon«, sagt sie. Und Schnitzler wiederum weiß, was er an der gestandenen Mitarbeiterin hat: »Birgit ist nicht nur super in ihrem Job, sie tut mit ihrer ausgleichenden Art auch dem Team gut«. Sie sei so etwas wie die »Mutti« im Justus.
Gießen: Kult-Kellnerin schon als 14-Jährige im Hotelrestaurant unterwegs
Jung-Ruhl kennt die Gastronomie schon von Kindesbeinen an. Sie ist in Wölfersheim aufgewachsen, doch ihre Tante arbeitete im Hotelrestaurant Staufenberg. Dort half sie gerne aus. Schon mit 14 hat sie in der Küche Kartoffeln geschält und Gemüse geputzt, im Restaurant gekellnert und sich im Hotel um die Wäsche gekümmert. »Ich habe alles gemacht, was anfiel und mir auf die Art etwas Geld verdient«, erinnert sie sich.
Nach der mittleren Reife entschied sie sich jedoch für eine ganz andere Branche. Sie machte eine Ausbildung zur Arzthelferin und war in diesem Beruf einige Jahre tätig. Der Gastronomie blieb sie jedoch trotzdem treu, in ihrer Freizeit arbeitete sie weiter auf der Burg Staufenberg.
Gastronomie in Gießen: Birgit Jung-Ruhl ist „Kellnerin aus Leidenschaft“
Weil man nicht auf allen Hochzeiten tanzen kann, fielen für sie die Sturm- und Drangjahre inklusive Party- und Discobesuche weitgehend aus. Vermisst hat sie das nicht. Vielleicht auch deshalb, weil sie in dieser Zeit schon ein Auge auf den jungen Koch im Restaurant geworfen hatte. Mit dieser ersten großen Liebe ist sie heute noch verheiratet. Ihr Mann Hans-Joachim und sie haben viele Jahre gemeinsam in der Gastronomie gearbeitet und »nebenbei« ihren Sohn Philipp aufgezogen. Birgit Jung-Ruhl war Restaurant- und Bankettleiterin, ihr Mann schmiss die Küche. Nachdem die Burg 2001 geschlossen wurde, ging das Paar nach Gladenbach, später waren sie in Butzbach tätig. 2010 begann Birgit Jung-Ruhl im Justus, ihr Mann ist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr erwerbstätig.
Die Arbeit macht der »Kellnerin aus Leidenschaft« immer noch Freude, trotz der Anstrengung und trotz der Arbeitszeiten. Sie mag die Begegnungen mit den Gästen, sie genießt die Schwätzchen zwischendurch und findet es wunderbar, dass die Kinder von früher heute mit ihren eigenen Kindern kommen. »Es ist schön familiär bei uns«, schildert sie. Der Vollprofi hat ein Elefantengedächtnis, was die Vorlieben ihrer Stammgäste angeht. Sie weiß, wer Bratkartoffeln statt Pommes möchte, wer Sellerie nicht verträgt oder nach dem Essen gerne eine Schnaps trinkt. Sie kennt viele heitere und traurige Familiengeschichten, behält sie aber schön für sich.
Und weil die Menschen merken, dass die freundliche Kellnerin mit dem Dirndl das nicht nur aus professionellem Interesse fragt, bekommt sie viel zurück von der Freundlichkeit. »Sie ist ein ungewöhnlich zugewandter Mensch«, sagt Lothar Jahrling. Er kommt manchmal kurz auf ein Feierabendbier vorbei und freut sich, wenn »die Birgit« da ist. Für die Unternehmenskultur sei eine solche Mitarbeiterin Gold wert, sagt er - und er muss es wissen, denn er führt selbst eine Firma. Für die Gäste ist eine wie sie ein Grund, wiederzukommen. »Bis zum nächsten Mal«, ruft das Paar, das in »seiner« Ecke gesessen hat. (Christine Steines)
Ein anderer Kult-Kellner in Gießen ist Vincenzo Laurito im „Klein & Fein“.