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Beschleunigt Rubel-Manöver die Energiewende in Gießen?

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Von: Burkhard Möller

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Fast schon ein Gießener Wahrzeichen: Gasbehälter der SWG an der Schlachthofstraße. © Oliver Schepp

Auch in Gießen wird Heizen teuer und die Sorge, dass Russlands Präsident Putin den Gashahn zudreht größer – doch die Stadt sieht die neue Lage auch als Chance.

Gießen – Kriegsherr Putin will den Westen zwingen, die Gasimporte aus Russland nur noch in Rubel zu bezahlen, um die im freien Fall befindliche Landeswährung zu stützen. Diese Nachricht verbreitete sich am Mittwoch, während die rund 80 Teilnehmer bei einer digitalen Veranstaltung der Stadt zuhörten, wie die Strategie der Gießener Stadtwerke aussieht, um einen wesentlichen Beitrag zum Erreichen der Klimaneutralität in Gießen bis 2035 zu leisten.

Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen für die Energieversorgung Deutschlands werden dabei so oder so eine Rolle spielen. So könnte Putins Rubel-Manöver den Ausstieg Deutschlands aus russischem Gas und Öl sowie die Suche nach Alternativen noch beschleunigen. „Billiges Gas aus Russland hat bestimmte andere Lösungen bislang verhindert, weil sie sich nicht gelohnt haben. Da bieten sich jetzt auch Chancen“, sagte Jens Schmidt, kaufmännischer Vorstand der Stadwerke Gießen AG, bei der gut besuchten Online-Veranstaltung.

Russisches Gas bricht weg: Krieg in der Ukraine als Chance für Energiegewinnung in Gießen

Als die Stadtverordnetenversammlung vor Monaten beschloss, dass die Stadtwerke ihre Klimaschutz-Strategie in einer öffentlichen Veranstaltung präsentieren sollen, dachte niemand an einen großen Krieg in Europa. Nun könnte es passieren, dass russisches Gas als eine „Brückentechnologie“, die Zeit verschaffen soll, um die regenerativen Energien weiter auszubauen, ausfällt. „Die Brücke droht einzustürzen, es werden Alternativen gesucht. Auch wir tun das“, erklärten Schmidt und der technische Vorstand Matthias Funk bei ihrem geopolitischen Abstecher.

Zu Beginn hatte der für den Klimaschutz zuständige Bürgermeister Alexander Wright (Grüne) die Ausgangslage anhand des Gießener Energieberichts 2020 geschildert. Der Pro-Kopf-Verbrauch von klimaschädlichem Kohlendioxid hat sich demnach in Gießen seit dem Referenzjahr 1990 von gut zehn Tonnen auf knapp sechs in 2020 reduziert. Ein Wert, der allerdings „mit Vorsicht zu genießen“ sei, sagte Wright mit Blick auf die Einflüsse von Corona unter anderem auf den Verkehr.

Während sich bei Strom und Wärme die CO2-Emissionen in den 30 Jahren seit 1900 deutlich reduziert hätten, habe es beim Verkehr kaum eine Veränderung gegeben. Wenn Gießen sein Klimaziel erreichen wolle, „müssen wir langfristig raus aus dem motorisierten Individualverkehr“, sagte Wright, um seine Aussage sogleich etwas zu relativieren. Ziel müsse es sein, Millionen von Pkw-Kilometern auf den ÖPNV zu verlagern. Dazu müsse der Nahverkehr attraktiver und die Stadt für die Autonutzung unattraktiver werden, dies bei gleichzeitiger Steigerung der „Aufenthaltsqualität“ in der Innenstadt.

2,6 Millionen Jahreskilometer: Stadtbusse in Gießen können Energiewende nicht alleine stemmen

Der Einfluss der Stadtwerke ist hier allerdings trotz der Umstellung der Busflotte komplett auf Biogasantrieb begrenzt. Die 2,6 Millionen Jahreskilometer der Stadtbusse machten weniger als ein Prozent des gesamten Stadtverkehrs aus, erläuterte Technik-Vorstand Funk.

Ganz anders sieht es bei der Wärme und beim Strom aus. Hier decken die SWG 90 Prozent (Wärme) und etwa 50 Prozent (Strom) des Bedarfs in Gießen ab. Zahlen, die zeigen, dass den SWG eine „Schlüsselrolle“ (Wright) zufällt und es „ohne Wärmewende keine Energiewende“ geben könne, wie Funk betonte. Energieeffizienz und die Erschließung weiterer klimaneutraler Brennstoffe seien bei der Fernwärme die Hebel.

Schub für Photovoltaik in Gießen: Bürgermeister Wright sieht Großwetterlage zugunsten der Stadt

Beim Strom verwiesen Schmidt und Funk darauf, dass die SWG schon jetzt „für alle Bedarfe“ Fotovoltaik-Lösungen anböten. Die Zielkennziffern zum Ausbau von „PV“ aus dem Energiebericht, die zu Beginn Bürgermeister Wright präsentierte, veranschaulichen die Herausforderung. Jedes Jahr bis 2035 müssten in Gießen Flächen in der Größenordnung von Dutzenden Fußballfeldern mit Solarmodulen bestückt werden, um beim Strom in 13 Jahren zu einer klimaneutralen Erzeugung zu kommen.

Einen Schub könnte der Fotovoltaik nach Einschätzung von Wright die energiepolitische Großwetterlage verleihen: „Wir haben jetzt eine andere Lage als noch vor Monaten.“ Der Teufel steckt freilich im Detail, genauer dem Mangel an Handwerkern und Material. „Wo sind die Handwerker und die Dachgestelle aus Alu? Diese Dinge sind ein Thema“, sagte Funk.

Gießen will mehr: „Wir können jedem Kunden ein klimafreundliches Angebot machen“

Schmidt machte deutlich, dass es vor allem vom Kunden abhänge, von dessen Willen sich ein am Markt tätiges Unternehmen wie die SWG nicht abkoppeln könne. „Wir haben Stromkunden nicht verloren, weil unsere Angebote nicht klimafreundlich genug wären, sondern weil die Leute zu Billiganbietern wie Stromio gewechselt sind.“ An den Stadtwerken soll es laut Schmidt jedenfalls nicht liegen, das Ziel 2035 Null zu erreichen: „Wir können jedem Kunden ein klimafreundliches Angebot machen.“

Die SWG-Vorstände beantworteten im Anschluss an ihren Vortrag noch viele Fragen aus dem Chat der von Stadtmitarbeiter Michael Bassemir moderierten Veranstaltung. (Burkhard Möller)

Zuletzt hatten die Stadtwerke Gießen (SWG) bei der Erhöhung der Strompreise Kritik einstecken müssen. Der Krieg in der Ukraine sorgt allerdings weiter dafür, dass die Energiepreise explodieren.

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