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Corona-Protestler bekommen Gegenwind in Gießen – So lief das Aufeinandertreffen

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Von: Burkhard Möller

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Protest gegen die »Spaziergänge« von Impfgegnern durch Gießen: Flagge am Montagabend zeigten die »Omas gegen Rechts« und die PARTEI.
Protest gegen die »Spaziergänge« von Impfgegnern durch Gießen: Flagge am Montagabend zeigten die »Omas gegen Rechts« und die PARTEI. © Burkhard Moeller

Seit Mitte Dezember demonstrieren auch in Gießen Kritiker der. Am Montagabend sahen sich die Corona-Maßnahmenpolitik erstmals mit Gegenprotest konfrontiert. Auch dank eines Intensivpflegers in ihren Reihen gelingt es der PARTEI, mit Impfgegnern und -zweiflern ins Gespräch zu kommen.

Gießen – Andere nennen sie Spaß- oder Satire-Partei, ihre Mitglieder wie der Gießener Oberbürgermeister-Kandidat Marco Rasch sprechen lieber von der »sehr guten PARTEI«. Am Montagabend (10.01.2022) steht Rasch mit 15 Mitstreitern aus dieser »sehr guten PARTEI« bei einer Mahnwache in der Fußgängerzone. Ein Hauch von »ZDF Magazin Royale« weht durch den Seltersweg, wenn Rasch durch ein Mikrofon Richtung Kreuzplatz ruft: »Wir impfen Euch alle«. Im Hintergrund ziehen gerade etwa 120 Teilnehmer der montäglichen Demonstration gegen die Impfpflicht und die Corona-Maßnahmenpolitik vorbei. An der Spitze des Zugs wird kurz gezögert, ob man - wie an den vorherigen Montagen - in den Seltersweg einbiegt. Aber da müsste man an der Mahnwache der PARTEI vorbei. Die Spaziergänger laufen auf ihrer ersten Runde in die Kaplansgasse hinein und umgehen den Protest.

Die ein oder andere doppelbödige Parole der PARTEI entgeht ihnen zunächst. »Hetz nicht so. Wir sind nicht in Sachsen« steht auf einem der Plakate. Die Spaß-Partei macht an diesem Abend aber auch ernst. Rasch lädt Demonstranten und Passanten zum Gespräch ein. »Wir haben hier medizinisches Fachpersonal dabei. Sprechen Sie uns an«, sagt er ins Mikrofon.

Widerstand gegen Corona-Protestler in Gießen: Enttäuschung über andere Parteien

Tatsächlich kommt es in der nächsten Dreiviertelstunde zu einigen Gesprächen vor dem Stand der PARTEI. Zwei Frauen nähern sich, eine ruft Rasch mit spöttischem Unterton zu: »Wo ist denn Ihr Gesundheitsexperte?« Von hinten tritt Thorsten Liebsch hervor, der im März für die PARTEI bei der Kommunalwahl fürs Stadtparlament kandidierte. Liebsch arbeitet am Uniklinikum auf der Pneumologischen Intensivstation 2.5 und damit im Auge des Orkans der Corona-Pandemie. Gießener kennen die Station als »Covid City«.

Die PARTEI demonstriert im Seltersweg.
Die PARTEI demonstriert im Seltersweg. © Burkhard Moeller

Liebsch spricht mit den Frauen, ehe einer der »Spaziergänger«, der sich von der Gruppe abgesetzt hat, das Gespräch mit Beschimpfungen unterbricht. Mehrfach ruft der polizeibekannte Mann in Richtung Mahnwache »Das sind doch alles linke Spinner«.

Liebsch ist so ziemlich das Gegenteil von einem Spinner. Jede Infektionswelle hat er bislang mitgeritten. Er steht mit beiden Beinen im Leben, was angesichts dessen, was er erlebt hat, nach bitterböser Satire klingt. Liebsch kann sich an ein Wochenende erinnern, »da haben wir fünf Patienten in den Keller gefahren«. In normalen Zeiten sterbe auf seiner Station pro Woche vielleicht ein Patient. »Das macht was mit einem, das macht was mit uns allen«, sagt er. Trotzdem mache er den Job noch gerne. Allerdings würde er sich mehr Rückhalt wünschen und mehr politische Gegenwehr gegen die Corona-Demos. »In anderen Städten haben sich mittlerweile breite Bündnisse formiert.« Es sei enttäuschend, dass sich in Gießen bislang wenig tue.

Später diskutiert Liebsch und einer seiner PARTEI-Freunde mit einem impfkritischen jüngeren Mann, der die Mahnwache kritisiert. »Sie wollen mich in meiner Wahlfreiheit einschränken. Die einen vertrauen auf die Impfung, andere wie ich auf ihr Immunsystem.« Das müsse man gegenseitig akzeptieren.

Corona-Proteste in Gießen: Mühsame Überzeugungsarbeit für Gegendemonstranten

Die Diskussionen zeigen, wie mühsam es ist, Leute zum Beispiel von einer Impfung zu überzeugen, die sich in ihrer Gedankenwelt eingerichtet haben - mit ihren eigenen Experten und ihren eigenen Überzeugungen. »Die Impfstoffe sind nicht sicher. Das können Sie alles nachlesen. Das ist ein ›Spiegel‹-Bestseller«, erklärt ein junger Vater mit Kinderwagen den PARTEI-Vertretern und zeigt Richtung Thalia-Buchhandlung. Der Name Wolfgang Wodarg fällt. Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete, mehrfacher Fach- und Amtsarzt, ist sozusagen ein Querdenker der ersten Stunde. Im April 2021 verließ er die SPD und kandidierte bei der Bundestagswahl für »Die Basis«. Sein Taschenbuch »Falsche Pandemien« wurde im vergangenen Jahr zum »Spiegel«-Bestseller.

Am Mikro der ehemalige OB-Kandidat Marco Rasch.
Am Mikro der ehemalige OB-Kandidat Marco Rasch. © Burkhard Moeller

Gegenwind für die Corona-demonstranten, die ihre Zusammenkunft erneut nicht bei der Versammlungsbehörde angemeldet haben und damit gegen das Versammlungsgesetz verstoßen, gibt es auch zu Beginn am Berliner Platz. Über 20 »Omas gegen Rechts«, die ihre Gegenkundgebung - wie die PARTEI auch - angemeldet haben, sind gekommen. »Wir müssen doch Flagge zeigen«, heißt es allenthalben. Ein Demonstrant mit Migrationshintergrund fühlt sich durch Plakate wie »Täglich nach den Rechten sehen« »denunziert«. Der Mann schreit die »Omas« an: »Bin ich ein Nazi? Sieht so ein Arier aus?« Matthias Riedl, der früher Fraktionschef der Linken im Stadtparlament war und mit Stadtverordneten der aktuellen Fraktion gekommen ist, schaltet sich ein. Er verweist auf die Demos in Wetzlar, an denen auch Neonazis der NPD und des Dritten Wegs teilgenommen haben. Der Mann winkt ab und schließt sich den »Spaziergängern« an.

Demonstrantin bei Gießener Corona-Demo leicht verletzt

Gegen Ende des Marschs durch die Stadt kommt es am Kanzleiberg zu einem Vorfall. Eine ältere Demoteilnehmerin, die sich in einem Gebäudeeingang ausweisen soll, behauptet, sie sei bei der Polizei-Kontrolle »zweimal mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen worden«. Andere »Spaziergänger« filmen die Szene und fordern die Beamten auf, die Frau gehen zu lassen. In einer Pressemitteilung spricht die Polizei noch am Abend von einer »augenscheinlich leichten Verletzung an der Wange«. (Burkhard Möller)

In Gießen und dem zugehörigen Landkreis ist die Corona-Lage derweil angespannt: Die Inzidenz ist so hoch wie nie zuvor in der Pandemie – und könnte weiter steigen.

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