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Gießen bekommt Erinnerungs-Baum für Suizidopfer

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Von: Kays Al-Khanak

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Dieser Baum soll ab Freitag an Suizidopfer in der Region erinnern und Anlaufstelle für Angehörige sein. © Oliver Schepp

Über Depressionen und Suizid wird ungern geredet - und wenn, dann leise. Im Gießener Stadtpark wird jetzt ein Baum zur Erinnerung an Suizidopfer aus der Region eingeweiht.

Ein Baum, sagt Elke Koch-Michel, steht für das Leben. Mit seinen Wurzeln ist er fest im Boden verankert. Er symbolisiert die Kraft, dass es weitergeht. Ein solcher Baum soll im Stadtpark Wieseckaue ein Zeichen für Suizidopfer aus der Region sein. Er soll auch ein Ort für Angehörige werden, die den Verlust eines geliebten Menschen durch Suizid verkraften müssen. Organisiert wird die Einweihung und anschließend ein Infostand im Seltersweg am Welttag der Suizidprävention an diesem Freitag vom Verein Trees of Memory. Die öffentliche Einweihung im Stadtpark findet am Freitag, 10. September, ab 12 Uhr in der Nähe des Park-Eingangs an der Ringallee statt. Von 14 bis 18 Uhr wird der Verein mit einem Stand im Seltersweg präsent sein.

Präventionsarbeit im Mittelpunkt

Es ist ein sonniger Septembervormittag. Wer Koch-Michels Garten in Lützellinden betritt, findet sich in einer grünen Oase wieder. Es gibt geschwungene Wege, wunderbar verwinkelte Eckchen, hier und dort eine Sitzgelegenheit. Insekten schwirren umher, ein alter Baum lässt das Gewusel und die Schönheit störrisch über sich ergehen. Was soll er auch sonst tun? Koch-Michel, eine engagierte, durchaus auch streitbare Frau, die im Stadtparlament saß, Ortsvorsteherin von Lützellinden war und weiterhin im Ortsbeirat engagiert ist, will dieses reine Ertragen bei den Tabuthemen Depression und Suizid nicht länger zulassen. Sie will Öffentlichkeit herstellen.

Für Koch-Michel ist das Pressegespräch beileibe kein einfaches. Sie ist Angehörige eines Menschen, der Suizid begangen hat: ihr Ehemann. »Angehörige«, sagt sie, »kommen nicht darüber hinweg, weil ihre Frage nach dem Warum nie beantwortet wird.« Auch werde über Depression und Suizid oft nur leise oder hinter verschlossenen Türen gesprochen. Dabei nehme die Zahl von seelischen Erkrankungen zu, betont Koch-Michel. Die Leistungsgesellschaft lasse den Menschen wenig Raum, der Druck von Außen nehme zu. »Und Corona hat es nicht verbessert«, sagt sie. Im vergangenen Jahr starben in Deutschland 8565 Personen durch Suizid - rund 25 pro Tag.

Koch-Michel erzählt, wie sie nach der Selbsttötung ihres Ehemanns eine Trauergruppe suchte - und auf das Angebot eines Sozialträgers stieß. Als eine Teilnehmerin gegenüber Koch-Michel erwähnte, ihr Partner sei an Krebs gestorben und habe im Gegensatz zum Ehemann der Lützellindenerin leben wollen, habe sie die Gruppe verlassen. »Man muss immer wieder daran erinnern, dass Depression eine Krankheit ist«, betont sie. Sie könne unter bestimmten Umständen jeden Menschen treffen. Erlebnisse wie in der Trauergruppe »machen mit uns Hinterbliebenen etwas«, sagt Koch-Michel. »Wir werden stigmatisiert.«

Bei der Suche nach einer speziellen Gruppe für Angehörige von Suizidopfern fand sie den Vereins Agus, der eine Ortsgruppe in Gießen anbietet. Dort ist Koch-Michel bis heute. Aber sie habe das Gefühl gehabt, dass sie nicht nur in einem geschlossenen Kreis über seelische Erkrankungen und Suizid reden, sondern darüber aufklären will.

So stieß sie auf Mario Dieringer. Der Journalist hat einen eigenen Suizidversuch überlebt und seinen Lebenspartner durch dessen Selbsttötung verloren. Daraufhin gründete er 2017 den Verein Trees of Memory; seit 2018 läuft er quer durch Deutschland und pflanzt Bäume der Erinnerung für Suizidopfer. In Gießen hat Koch-Michel die Aktion Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz vorgestellt - und Unterstützung erhalten. Am Freitag wird Dieringer in der Nähe des Eingangs zur Ringallee eine Plakette vor einem Baum im Stadtpark einweihen.

Trees of Memory macht aber noch mehr. Koch-Michel erklärt, viel Kraft werde in die Präventionsarbeit gesteckt. Bundesweit bietet der gemeinnützige Verein über 15 Anlaufstellen einen kostenlosen Beistand an. Von Suizid Betroffene können dort einen Paten zur Seite gestellt bekommen, der sie unterstützt, das erste Gefühlschaos aufzufangen und Selbsthilfegruppen oder Therapeuten zu finden. Außerdem versucht der Verein, durch Vorträge für das Thema zu sensibilisieren. Koch-Michel nennt unter anderem Verwaltungen, Polizei, Kirchen oder Schulen als mögliche Kooperationspartner. Gleichzeitig brauche es eine Bündelung von Kompetenzen, beispielsweise mit Sozialträgern wie der Caritas und den Ausbau von Telefonseelsorge. Denn Menschen, die an einer Depression erkrankt seien und keinen Ausweg mehr erkennen würden, sehe man ihr Leiden oft nicht an. Sie entwickelten Taktiken, mit denen sie ihre Erkrankung vor anderen verbergen. »Dabei kann die Krankheit heilbar sein«, sagt Koch-Michel. »Aber es wird nichts passieren, wenn wir nur leise oder im Verborgenen darüber sprechen.« Gleichzeitig müsse man Erkrankten und Angehörigen zuhören und ihnen klar machen: »Ich bin etwas Wert.«

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