Gewalt gegen die Schwächsten

Unfassbar: Eltern stecken die Hand ihres Kindes in kochendes Wasser. Zur Bestrafung. Tatsächlich sehen die Rechtsmediziner an der Uniklinik fast täglich Fälle von Kindesmisshandlung, teilweise noch schlimmer als die beschriebene. Eine der Aufgaben der Experten ist es, die Lügengeschichten der Täter zu entlarven.
Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung: kein kleiner Klaps auf den Po, keine Ohrfeige, erst recht nichts Schlimmeres. Vor Corona wurden am Forensischen Konzil des Universitätsklinikums Gießen und Marburg im Jahr 2019 aber 349 Gewaltopfer untersucht, »und mehr als die Hälfte davon waren Kinder«, sagt Rechtsmediziner Reinhard Dettmeyer. Diese werden meist vom Jugendamt oder der Kinderklinik, manchmal auch von den Eltern, zur Untersuchung gebracht. Die Aufgabe der Mediziner ist zunächst die Aufnahme und Dokumentation der Verletzungen, letztlich aber auch die Einschätzung, wie sie entstanden sind.
Schlagtypisch: Rücken und Gesäß
Dettmeyers Beschreibungen klingen nüchtern medizinisch: »Meistens stellen wir stumpfe Gewalt fest, manchmal thermische Verletzungen.« Unter stumpfe Gewalt falle dabei eine Backpfeife genauso wie Schläge mit der Faust oder dem Gürtel. Die Rechtsmediziner sehen davon dann die Auswirkungen: Blutungen, blaue Flecken, Abdrücke. Ob es sich dabei um eine zugefügte Verletzung oder das Resultat eines Unfalls handelt, versuchen die Ärzte zu rekonstruieren.
Hinweise geben den Experten zum einen die Lokalisation, also der Ort der Verletzung. So schrammen sich Kinder beim Fallen oft Knie oder Schienbeine auf. »Verletzungen am Rücken oder Gesäß hingegen sind schlagtypisch«, sagt Dettmeyer. Zum anderen bestimmen die Mediziner aber auch anhand der Formung, also der Art der Verletzung, wie sie zustande kam. Wenn Gegenstände wie ein Kabel zum Schlagen benutzt werden, hinterlassen sie oft einen Doppelstriemen. Dettmeyer: »Zwei bandförmig verlaufende Blutergüsse mit blassem Mittelstreifen.« Und auch bei den »thermischen Verletzungen« wie Verbrühungen könne man an der Form feststellen, ob es ein Unfall war. »Dann erkennt man ein Spritzmuster und eine entsprechende Verteilung am Körper.« Wenn Eltern zur Strafe die Hand des Kindes in kochendes Wasser halten, gebe es eine scharfe Grenze zur Verbrennung.
»Wir haben aber auch epidemiologische Erfahrungswerte«, sagt der Mediziner. So sei das Risiko größer, dass es sich um eine Gewalttat handele, wenn die Mutter eine 17-Jährige sei, die gerade mit einem neuen Freund zusammengekommen sei, das Kind aber vom vorherigen Partner stamme. Kleiner sei das Risiko bei einer 30-jährigen Mutter mit Wunschkind.
Missbrauch von Säuglingen
Weitaus seltener als mit stumpfer Gewalt haben es die Rechtsmediziner mit Verletzungen durch scharfe Gegenstände wie Messer und Rasierklingen zu tun. »Sehr selten sehen wir auch den Missbrauch von Säuglingen anhand von analen Penetrationsverletzungen«, sagt Dettmeyer in seiner sachlichen medizinischen Sprache.
Letztlich gebe es auch Kinder, die die Misshandlung nicht überleben. Dettmeyer erinnert an einen bekannten Fall aus Marburg, als im März 2007 ihre Eltern die 14 Monate alte Jacqueline verhungern ließen. Aber auch Säuglinge, die zu Tode geschüttelt werden - oder die schwerste Hirnschäden davon tragen - sehen die Ärzte.
Zuständig ist die Gießener Rechtsmedizin für die Landgerichtsbezirke Gießen, Marburg, Fulda, Limburg und Kassel. Eine problematische Beobachtung, die Dettmeyer und seine Kollegen zuletzt gemacht haben: Im Vergleich zu 2019 seien die Zahlen der Patienten, die vorstellig werden, in den Pandemiejahren eingebrochen. »Fälle bleiben wegen Corona häufiger unentdeckt«, vermutet der Mediziner.
Womit Dettmeyer und seine Kollegen übrigens immer wieder konfrontiert sind, sind die Ausreden der Täter. Zu den Klassikern gehöre, dass das Kind von Wickeltisch gefallen oder mit dem Rad gestürzt sei. Aber, das macht der Rechtsmediziner klar: »In der Mehrzahl der Fälle können wir sehr gut erkennen, ob etwas ein Unfall oder eine Gewalttat war.« Vielleicht hilft diese Gewissheit den Rechtsmedizinern auch im Umgang mit den belastenden Taten. Dettmeyer erklärt, dass sie zwar gelernt haben, damit distanziert umzugehen: »Man muss aufpassen, dass man sich nicht emotional zu sehr involviert.« Aber gerade bei Kindern falle das schwer.