Fünf Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Während Putins Panzer weiter auf Kiew zurollen, analysiert Professor Hans-Jürgen Bömelburg vom Gießener Zentrum östliches Europa, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Um zukünftig ähnliche Situationen zu vermeiden, wird Deutschland auf Wohlstand verzichten müssen.
Dass Russland die Ukraine angreifen könnte, hätte man bereits früher erkennen können, früher erkennen müssen.« Das sagt Professor Hans-Jürgen Bömelburg vom Gießener Zentrum östliches Europa der Justus-Liebig-Universität. Der Historiker ist sich sicher, dass die Welt und insbesondere Deutschland zu lange die Augen vor Putins Aggressionen verschlossen hatten. Jetzt hat Deutschland zwar eine Kehrtwende gemacht. »Auch wenn es etwas gedauert hat«, sagt Bömelburg. Doch mit Blick auf die Zukunft ist für den Wissenschaftler noch mehr zu tun. Weitere Länder in Osteuropa seien vor Russland nicht sicher, »und China könnte das nächste Russland werden«. Bömelburg zählt fünf Lehren auf, die deswegen aus dem Ukraine-Krieg gezogen werden müssen:
1. Die internationale Gemeinschaft muss Aggressionen früher erkennen. »Bereits 2007, nach Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, hätte man Russlands Pläne wahrnehmen können«, sagt Bömelburg. Der russische Präsident habe bereits damals die Osterweiterung der NATO abgelehnt und diese einen »provozierenden Faktor« genannt. Seit der Eroberung der Krim 2014 habe dann jedem klar sein müssen, was Putin vorhat: Einen Teil oder die ganze Ukraine Russland anzuschließen. Bömelburg vermutet, dass Deutschland einfach nicht wahrhaben wollte, was Putin im Begriff war zu tun. Schließlich habe man sich den russischen Politikern in der Sowjetunion zu Dank verpflichtet gesehen und sich seit Jahren von Russlands Energielieferungen abhängig gemacht.
2. Es muss einen teilweisen Rückbau von Globalisierungsstrukturen geben. Spätestens seit den 80er Jahren habe Deutschland einen falschen Weg eingeschlagen und sowohl bei der Energiebeschaffung als auch bei der Warenproduktion nach dem Motto gehandelt: Da kaufen, wo es am günstigsten ist. Das räche sich nun. »Wirtschaft und Politik sind gut beraten, Kernindustrien in EU-Staaten zu lassen«, sagt Bömelburg. Bereits in der Corona-Pandemie habe sich gezeigt, dass es nicht sinnvoll sei, seine Medizinproduktion in Ostasien zu konzentrieren. Ein weiteres Problem sei, dass viele Unternehmen keine sinnvolle Lagerhaltung mehr betreiben würden. »Es gibt immer mehr Just-In-Time-Produktion.« Auch das sei gefährlich, wie sich nun gezeigt habe. So stehen einige Fabriken von VW in Deutschland bereits nach wenigen Kriegstagen still. Diese Neuausrichtung der europäischen Wirtschaft auf eine weniger globalisierte Produktion werde Folgen haben. »Das wird uns Wohlstand kosten.«
3. Deutschland muss sein Militär ausbauen. »Das ist jetzt auch Konsens«, sagt Bömelburg. Deutschlands und Europas Schwäche sei einer der Faktoren gewesen, die Putin überhaupt erst erlaubt habe, diesen Krieg zu beginnen. »Der Glaube, wir sind mitten in Europa und nur von Freunden umgeben, darf nicht mehr die Militärausgaben der Bundesrepublik bestimmen.« Klar sei aber auch, dass bei steigenden Ausgaben für Militär und Energieeinkauf in Deutschland Abstriche in anderen Bereichen nötig seien.
4. Es muss eine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen werden. Der Überfall Russlands auf die Ukraine konnte von der bestehenden Struktur nicht verhindert werden. Mehr noch: Weitere Länder sehen sich jetzt gefährdet. »Schweden und Finnland sollten deswegen auch in die NATO eintreten dürfen, wenn sie das wollen«, sagt Bömelburg. Bei der Ukraine und Georgien sieht der Forscher das jedoch anders. »Damit würde man sich neue Krisenherde ins Bündnis holen.« Es sei schwer, eine neue internationale Sicherheitsarchitektur auf den Weg zu bringen, die auch diesen Ländern Schutz bietet und auch in Russland als sicherheitswahrend angesehen werde. Trotzdem müsse man es versuchen.
5. Die europäische Politik muss sich mehr mit der östlichen Hälfte Europas beschäftigen. Ein Faktor, der den Ukraine-Krieg ermöglicht habe, sei die geringe Auseinandersetzung der internationalen Gemeinschaft mit dieser Großregion. »Dabei war die Region schon zu Zeiten der Sowjetunion wirtschaftlich wichtig«, sagt Bömelburg. Trotzdem sei das Wissen über die osteuropäischen Länder auf der Welt gering. »Wer in Deutschland kann zum Beispiel eine osteuropäische Sprache sprechen?« Der Hochschullehrer sieht dabei vor allem auch in Schulen und in der Wissenschaft Nachholbedarf.