Früher war fast alles »unverpackt«

Wie kaufen die Gießener heute ein und wie sah das vor 60 oder 70 Jahren aus? Das Erzählcafé im Oberhessischen Museum bekam angesichts des Wandels im Einzelhandel eine überraschende Aktualität. Die Besucher erinnerten sich an längst verschwundene Läden und Cafés, an Anzüge »fürs Leben«, geliebte Windbeutel und nachhaltige »Einkaufs-Schürzen«.
Herren- und Knabenbekleidung von Carl Sommer. Brückner&Mund, Bratfisch, Heyer oder Köhler. Die Damen kauften sich ihre Pullover bei Schneeberger und ein Kleid für den besonderen Anlass bei Schlüter. Die Namen flogen nur so durch den Raum, als sich ältere Gießener und Gießenerinnen im Erzählcafé des Oberhessischen Museums daran erinnerten, wo sie sich früher einkleideten. Ein Fachmann war auch dabei: Dieter Reinshagen hat 1956 seine Lehre zum Textilkaufmann bei Carl Sommer begonnen und erinnert sich noch genau, was »ein Stift« damals zu tun hatte. Der ehemalige »Kluftier«, wie er sich scherzhaft nennt, sieht sich noch heute die feinen Herrenanzüge ausbürsten.
Dagmar Hinterlang, die in Kleinlinden schon seit vielen Jahren einen Gesprächskreis mit »Linneser Frauen« leitet, hatte die Besucher mitgenommen zu einem virtuellen Einkaufsbummel durch die Gießener Innenstadt der Nachkriegsjahre. Wo gab es Brot, wo Milch, wer hatte den besten Kuchen und was war ein richtiger Geheimtipp? Viele Gäste aus der Runde hatten etwas beizusteuern und immer wieder wurde deutlich: Die Wunden des Krieges wirkten lange nach. Viele Geschäfte, die vor dem Krieg eine feste Größe gewesen waren, gab es nicht mehr. Einige Läden wurden an anderer Stelle wieder eröffnet, manche machten im Notbetrieb wieder auf, andere gerieten in Vergessenheit.
Geradezu ins Schwärmen kamen die Besucher, die vorwiegend aus Kleinlinden, Wieseck und der Innenstadt kamen, als sie einander an die Cafés erinnerten. An das Café Hettler mit seinem weißen Mobiliar, den Damen mit ihren Hüten und der weltbesten Schwarzwälder Kirschtorte, das Café Zissel mit den wunderbaren Windbeuteln, das Café Amend mit den besten Mohrenköpfen, das Café Bück Dich und natürlich das Café Deibel. Dass es das nicht mehr gebe, bemerkte ein fachkundiger Besucher, sei nicht den Weltkriegsbomben geschuldet, sondern dem Bauwahn der 60er und 70er Jahre. »Leider wurde dorthin der hässliche Sparkassenklotz gestellt.«
Wer in den 50er Jahren einen neuen Anzug brauchte, der ging gerne zu »Herrn Ellermeier« zum Herrenausstatter Köhler. »Aber wenn wir ehrlich sind, musste da ja nicht viel beraten werden, denn alle Herren trugen im Büro graue Anzüge, mal hell und mal dunkel«, sagte eine der Besucherinnen. Anzüge von der Stange zu kaufen sei ohnehin für die meisten Leute eher unüblich gewesen.
Stattdessen ging man zum Schneider seines Wohnviertels und ließ sich dort einen anfertigen. Diese Anzüge waren dann fast »fürs Leben«. Niemand hätte es sich leisten können, jede Saison etwas Neues nähen zu lassen. Apropos nähen: Viele Frauen nähten damals die Kleidung für sich und ihre Familie selbst und wenn es Risse oder Löcher gab, wurden die Sachen mehrfach geflickt bzw. gestopft. Stoffläden und Kurzwarengeschäfte hatten ein reichhaltiges Sortiment. In einem kleinen Lädchen am Selterstor, so beschrieben die Frauen, konnte man Seidenstrümpfe reparieren lassen und Kurzwaren Reuß an der Ecke Wolkengasse hatte jede Menge Knöpfe, Nadeln, Reißverschlüsse und Garne für die heimische Nähstube.
Wenn Hemden oder Bett- und Tischwäsche irgendwann ausgemustert wurden, fing man immer noch etwas Sinnvolles damit an: Man schnitt sie zu Putzlappen zurecht, man schneiderte Schürzen oder Einkaufstaschen daraus. Das nachhaltige Haushalten und Wirtschaften, das jüngere Menschen derzeit wiederentdecken, war für die Generation der Urgroßmütter und Großmütter selbstverständlich, nur nannte das damals niemand »Upcycling«.
Eine Schürze, schilderte eine Seniorin aus Kleinlinden, schützte nicht nur das Kleid, sondern war zudem ungemein praktisch: Sie diente auch als Einkaufstasche, wenn man die Zipfel vorne zusammenband. Eingekauft wurde nicht im Supermarkt, sondern beim Bäcker Keil in Gießen oder Schneider in Kleinlinden, bei Gemüse Koch oder Helfrich, beim Metzger Meister, Nagel & Metzger oder Zach. Ein Vorläufer der Supermärkte und »Unverpackt«-Läden waren kleine Lebensmittelgeschäfte wie der von Gustav Geisse in der Katharinengasse, dort, wo heute das Schuhgeschäft Deichmann ist. »Eine Institution«, waren sich die Frauen einig. Dort wurden Milch und Sahne in Glasflaschen abgefüllt, dort gab es Maggi und Senf in Fässern, mehrmals in der Woche frischen Hering und überhaupt lose Ware aller Art, die täglich eingekauft wurde. Auch in den Stadtteilen gab es solche »Institutionen«, z. B. in Wieseck den Kolonialwarenladen Kümmel.
»Für uns als Kinder war der Einkauf in Gießen ein Highlight«, erinnerte sich eine Besucherin, die im Vogelsberg aufgewachsen ist. Ihre Familie sei alle 14 Tage in die Stadt gefahren. »Alleine die Vielfalt auf dem Wochenmarkt war für uns sensationell«, sagt sie.
Fazit nach eineinhalb Stunden Erzählcafé: Früher war längst nicht alles besser, aber manches darf die heutige Wegwerfgesellschaft ruhig wiederentdecken.