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Fremde Welten und Vertrautes

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Von: Dagmar Klein

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Magdalena Stoyanova im Einkaufswagen, Performance zur Buchvorstellung von Rolf K. Wegst. FOTO: DKL © Dagmar Klein

Das TanzArt-ostwest- Festival 2022 startete am Freitag mit dem Site- Specific-Projekt »Un/Usual Grounds« im Einkaufszentrum »neustädter«. Der Kooperation der Tanzcompagnie Gießen mit der Bauhaus-Universität Weimar sowie der Hochschule für Musik und Kunst in Frankfurt folgten am Wochenende weitere Veranstaltungen.

Die Fläche auf Parkdeck 3 wies am Freitag drei Bühnenräume auf, auf der linken Seite stehende und hängende Rahmen mit irisierender Folie, in der Mitte herunterhängende Neonröhren und rechts dehnbare Dreieckssegel, die zwischen Decke und Boden gespannt waren. Alle in bequeme Lounge-Anzüge gekleidet, farblich nach Gruppen zugeordnet (Kostüme Thomas Döll).

Der spielerische Umgang mit den Bühnenelementen stand im Zentrum, dabei wurden mal die Oberteile ausgezogen, die Sneakers gegen High Heels getauscht oder es wurde mit Wasserflaschen gespritzt. Phänomenal die drei Sängerinnen, die aus den Songbooks von John Cage vortrugen. Das waren keine üblichen Noten und Melodien, sondern Stimmmodulationen und Geräusche wie Schreibmaschinengeklapper, auch gesprochene, aber sinnentleerte Wortfolgen. Damit alle Beteiligten ihren Einsatz fanden, war die Partitur im Rücken der Zuschauer an die Wand projiziert. Das Ganze bot eine faszinierende Einführung in das ungewohnte Terrain der Klangwelt von John Cage. Alle Beteiligten szenisch zusammenzubringen, oblag Massimo Gerardi, Tanzpädagoge, Choreograf und Manager bei der Tanzcompagnie Gießen (TCG).

taT-Abende und Buchvorstellung

Der Freitagabend im taT bot dann wieder Vertrautes: Romeo und Julia, aufbereitet als Collage mit darstellerischen und getanzten Teilen von der Strado Compagnia Danza aus Ulm. Die rothaarige Mirjam Morlok tritt in wechselnden Kostümen auf, immer in knalligen Rottönen. Sie erzählt die Geschichte, schreibt sie neu unter dem Motto »was, wenn sie nicht gestorben wären«, zieht dafür alle möglichen filmischen Versionen zurate und intoniert mit Hingabe viele Liebesschmonzetten. Sie agiert zwischen Opernpathos, Slapstick und Stummfilm, imitiert sogar Don Corleone aus »Der Pate« und versucht sich als Paartherapeutin. Das Tanzpaar (Frederica Faini, Oliver Petriglieri) zeigt Liebe und Streit in den Variationen einer langjährigen Beziehung, vor allem in verschiedenen Tanzstilen, dabei immer mit Augenzwinkern.

Besonders beeindruckend ist die betanzbare Tischwippe. Für die italienische Community im Publikum waren die typischen Streitgespräche und die italienischen Liebeslieder Anlass zu Freude und Kommentaren.

Am Samstagnachmittag stellte Theaterfotograf Rolf K. Wegst im Einkaufszentrum »neustädter« seine zwei neuen Fotobände »TanzArtik« vor, in denen er die vergangenen Jahre der Tanzcompagnie Gießen (TCG) und des TanzArt-Festivals dokumentiert. Die Performance von Magdalena Stoyanova, dienstältestes TCG-Mitglied und mit dem Fotografen seit 18 Jahren bekannt, erzählte von Vertrauen und Respekt. Sie befreite sich aus einem Einkaufswagen und posierte für den Fotografen, entdeckte das Buch und zog sich zum Schmökern wieder zurück. Am Ende zogen die beiden davon. Staunenswert war, wie sich zwischen den Rolltreppen vor Tegut und Penny ein eigener Raum gebildet hatte, auf den die Vorbeieilenden meist nur kurze Blicke warfen.

Körperlichkeit und Persönlichkeit

An diesem zweiten taT-Abend waren zwei Gruppen zu erleben. Die Compagnie Irene K. (Eupen/Belgien), die bei den bisherigen 18 TanzArt-Festivals jedes Mal dabei war, überraschte mit dem Stück des Gastchoreografen Pascal Touzeau. Dieser ist dem Gießener Tanzpublikum bekannt von dem Dreiteiler »Spieluhr« im Großen Haus. Mit dem Tänzer Gold Mayanga und den Tänzerinnen Marcia Liu und Nona Munnix umkreist er die Beziehung zwischen Geist und Körper. Stampfendes Gehen markiert das Alltägliche, dazwischen gibt es Phasen des Suchens, allein oder miteinander. Der Choreograf nutzt die unterschiedliche Körperlichkeit der Drei: der schwarze, sehr kraftvoll-muskulöse Tänzer und die beiden weißen, zierlichen Tänzerinnen, die zudem noch in hautfarbene Trikots gekleidet sind und dadurch wie durchscheinend wirken, wie Geister eben. - Die nächste Choreografin, Deborah Smith-Wicke von Sozio-Vision in Motion (Kassel), lotet in ihrem Stück »Epilogue - The backside of the moon« das Verhältnis von Körperlichkeit und Persönlichkeit aus. Ihre drei Tänzerinnen tragen glitzernde Oberteile mit tiefem Rückenausschnitt, damit die »am schwersten zu berührende Stelle unseres Körpers zwischen den Schulternblättern« sichtbar bleibt. Die körperliche Tür zur Seele soll geöffnet werden, dabei hilft die von Geigen getriebene Musik von Philipp Glass, um die Tänzerinnen in geradezu rauschhafte, offenbar auch strapaziöse Zustände zu versetzen.

Das Festival geht weiter: am Mittwoch 16 Uhr mit einer Performance der Compagnie Irene K. an den Rolltreppen des Einkaufszentrums »neustädter«, am Donnerstag folgt die Premiere des neuen TCG-Stücks »Die Goldene Regel« im taT, ab Freitagabend Beiträge der zahlreichen Gäste auf der taT-Studiobühne und Pfingstsamstag bis -montag auf der Großen Bühne im Stadttheater.

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Trio der Compagnie Irene K. in Dark Light (Choreografie P.Touzeau). FOTO: PM/WEGST © Red

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