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Fotos mit Beweiskraft

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Sigrid Ruby (links), Michael Diers (Mitte) und Markus Späth (rechts) im Austausch mit Matthias Schulz, der coronabedingt digital teilnahm. FOTO: IXI © Felix Leyendecker

Gießen (ixi). Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Fotografien zum Beispiel ermöglichen eine Deutungshoheit über einen einzigen Moment. Gleichzeitig zeigen sie meist nur einzelne Szenen, die erst bei der Betrachtung eines großen Ganzen vollumfänglich erschlossen werden können. Fotos können zu Ikonen werden und sinnbildlich Ereignisse der Geschichte stehen, beispielsweise das »Napalm Girl« von Nick Ut oder die Fotos vom 11.

September 2001. Prof. Michael Diers ist das bewusst. Der Kunst- und Bildhistoriker beschäftigt sich seit einigen Jahren mit den brennendsten Fragen seiner Zeit. Seinen Gastvortrag an der Justus-Liebig-Universität im Rahmen einer Einladung des Instituts für Kunstgeschichte nannte Diers »burning issues«, zu Deutsch: brennende Probleme.

Problematik von Trümmerbildern

Der Referent hält den Titel noch für zu unpräzise. »Burning issues ist ein modischer Titel, das gebe ich zu. Es ist eher das, was auf den Nägeln brennt.« Auch nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar ist die Flut an Bildern immens geworden. Der Konflikt entpuppt sich auch als Informationskrieg. Es geht um die Frage, welchen Bildern Vertrauen geschenkt werden kann, welche Beweiskraft dem Bild zukommt, wie die verbreiteten Informationen verifiziert und sich jeder Einzelne ein fundiertes Urteil über die Situation bilden kann, ohne selbst vor Ort zu sein.

Für Diers beginnt die Geschichte der Bilder aber nicht in der Ukraine, sondern einige hundert Kilometer weiter südlich: im Gazastreifen. »Die grundlegende Frage ist: Welche Bilder zeigen wir und wo legen wir uns womöglich selbst eine Bildzensur auf?«, fragt Diers. Für den Kunsthistoriker ist schon die Frage nach Begrifflichkeiten eine Frage nach Nuancen und feinen Abwägungen. »Trümmer und Ruinen miteinander zu vergleichen, kann auch die Kunstgeschichte, und das ist heute umso wichtiger«, betont Diers. Der Topos der Ruine feiert seit dem 15. Jahrhundert eine Erfolgsgeschichte und steht sinnbildlich als Allegorie und Bildmotiv. Trümmer hingegen seien ästhetisch kaum ansprechend, ein katastrophischer Urzustand sei allgegenwärtig. »Trümmer sind durch Leichen gekennzeichnet. Ruinen hingegen sind eine Chiffre für den nagenden Zahn der Zeit.

Der Historiker erläutert die Problematiken der medialen Verarbeitungen von Trümmerbildern. »Schockfotos mit Leichen gelten in etablierten Medien als unangebracht. Wir geben uns mit architektonischen Bildern zufrieden. Der Pressekodex und die Triggerwarnungen in den Medien schützen vor Traumata«, sagt Diers. Selbst Künstler nutzen die Möglichkeit, um Trümmer und Ruinen darzustellen, etwa der Deutsche Thomas Demand oder der Installationskünstler Thomas Hirschhorn aus der Schweiz. Diers zitiert den Italiener Antonio Gramsci. »Zerstörung ist kompliziert. In der Tat, es ist genauso kompliziert wie eine Erschaffung.«

Fotografien, sagt der Kunsthistoriker, könnten auch als Dokumente dienen, zum Beispiel bei Kriegsverbrechen wie jüngst in der Ukraine. Diers verdeutlicht dies anhand des Bildes der New-York-Times-Fotografin Lynsey Addario. Sie hatte ein Foto einer toten Familie in Irpin geschossen, die nach einem Mörserangriff russischer Soldaten auf der Flucht gestorben war. Die Unterschiede in den Darstellungen der europäischen und US-amerikanischen Medien sind nach Ansicht von Diers bemerkenswert. »Der Pressekodex wird in Deutschland mal mehr und mal weniger großzügig gehandhabt. Grundregel ist: Keine Gesichter von Toten. Die New York Times zeigte das Bild unverpixelt und unzensiert. Die Beschießung von Zivilisten, also dieses Bild, ist ein wichtiges Zeugnis darüber, was gerade in der Ukraine passiert«, sagt Diers.

Zeugnis von Kriegsverbrechen

Im Gegensatz zur Publizistin Susan Sontag ist der Referent der Meinung, dass Fotos einen großen Informations- und Argumentationsinhalt haben. »Die Frage ist immer: Soll ich das Foto in diesem Moment machen? Die Antwort ist: Ja! Das Bild ist Zeugnis eines Kriegsverbrechens. Die Zivilisten waren das Ziel«, sagt Diers. Der Vater der Familie, der sich zum Zeitpunkt des Zwischenfalls in der Ostukraine befand, identifizierte seine Familie aufgrund der Fotografie in den sozialen Netzwerken und nahm Kontakt zu Addario auf. »Addario sagte, dass sie das Bild gemacht hat, weil das ihr Job war. Das hat selbst die Moderatoren des »heute-journal« verwirrt. Für uns in Deutschland ist das kein Thema, da greift eine Art Selbstzensur. Die USA ist da nicht so strikt«, erzählt Diers. Er selbst könne verstehen, weshalb die Fotografin in diesem Moment das Bild geschossen habe.

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