Formsache und Kampfabstimmung

In Gießen kandidiert bei der Landtagswahl im kommenden Jahr für die Grünen eine Heuchelheimerin, in Lich, Grünberg oder Hungen ein Gießener. Diese Konstellation hat sich bei der Kreismitgliederversammlung ergeben. Im Mittelpunkt stand eine Kampfabstimmung im Wahlkreis Gießen-Land.
Bei der rund zweieinhalbstündigen Versammlung im Kerkradezimmer der Kongresshalle wurde im Wahlkreis 18 (Gießen-Stadt) am Mittwochabend erneut die Landtagsabgeordnete Katrin Schleenbecker aus Heuchelheim ins Rennen ums Direktmandat geschickt. Von den 58 abgegebenen Stimmen erhielt Schleenbecker, die keinen Gegenkandidaten hatte, 49. Vier Anwesende stimmten mit Nein, fünf enthielten sich. Zum Ersatzkandidaten wurde der Gießener Stadtverordnete Martin Kirsch gewählt. Der Polizeibeamte, der aufgrund einer Erkrankung nicht anwesend sein konnte, erhielt 55 Ja-Stimmen.
Während die Bestätigung von Schleenbecker eine Formsache war, wurde es im Wahlkreis 19 (Gießen-Land) spannend. Hier setzte sich der junge Gießener Stadtverordnete Fabian Mirold-Stroh gegen den langjährigen Vorsitzenden des Kreisausländerbeirats, Tim van Slobbe aus Pohlheim, in einer Kampfabstimmung klar durch. Der 26-jährige Mirold-Stroh erhielt - bei einer Enthaltung - 39 Stimmen, van Slobbe 19. Der Pohlheimer, der aus den Niederlanden stammt, hatte erst drei Tage vor der Versammlung die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, um bei der Landtagswahl antreten zu können. Als Ersatzkandidat stand van Slobbe nicht zur Verfügung. Diese Position füllt im Wahlkreis 19 mit der 26-jährigen Jana Widdig ebenfalls eine Stadtverordnete aus Gießen aus. Widdig, die auch im Kreistag sitzt und im Lumdatal aufgewachsen ist, erhielt 49 Ja-Stimmen, fünf Mitglieder stimmten gegen sie, vier enthielten sich.
Wahlordnung eine »Lex Mirold-Stroh«?
Zu Beginn der von der früheren Kreisbeigeordneten Christiane Schmahl geleiteten Versammlung hatte die verteilte Wahlordnung für Diskussionen gesorgt. Erstmals sollten alle Mitglieder des Kreisverbands ungeachtet, in welchem der beiden Wahlkreise ihre Heimatkommune liegt, die Kandidaten in beiden Wahlkreisen wählen können. »Hillu« Hofmann aus Pohlheim beantragte, dass die Wahlen - wie früher praktiziert - getrennt durchgeführt werden. Eine klare Mehrheit indes bestätigte die Wahlordnung. Da die Gießener im Raum augenscheinlich deutlich in der Mehrheit waren, dürfte das Wahlprozedere Mirold-Stroh eher genutzt haben als van Slobbe. Hinter vorgehaltener Hand äußerten einige Mitglieder am Rande der Versammlung sogar die Vermutung, die Wahlordnung sei eine »Lex Mirold-Stroh«.
Dem Vorsitzenden des Ausschusses für Umwelt und Klimaschutz im Stadtparlament schadete es auch nicht, dass Gerhard Keller und Dietmar Jürgens (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Biologen), die beide das Bürgerbegehren gegen die Baumrodung am Schwanenteich unterstützen, Mirold-Stroh zu seinem »parlamentarischen Verständnis« und seiner Rolle im Entscheidungsprozess um die Schwanenteich-Sanierung befragten. Der Schuss ging nach hinten los. Für seine Replik auf Jürgens erhielt Mirold-Stroh starken und langanhaltenden Beifall der Versammelten. Einige Mitglieder beschwerten sich zudem, dass das stadtpolitische Thema Schwanenteich bei einer Kandidatenkür zur Landtagswahl überhaupt diskutiert wurde. »Was hat das hier zu suchen?«, fragte der Kreisbeigeordnete Christian Zuckermann.
Landespolitisch bestimmte sowohl bei der Vorstellung von Schleenbecker als auch der beiden Kandidaten für den Wahlkreis 19 die an vielen Orten schlechte Nahverkehrsanbindung des ländlichen Raums die Diskussion. Zudem gab es Aufforderungen aus der Versammlung, den Bau weiterer Umgehungsstraßen wie im Fall von Reiskirchen und Watzenborn-Steinberg im Landtag zu verhindern.
Als Zielmarken gaben alle Kandidaten den Gewinn der Direktmandate aus. »Beim letzten Mal waren wir schon nah dran. Diesmal will ich es holen«, sagte Katrin Schleenbecker unter Beifall. Im Wahlkreis 19 sieht van Slobbe nach dem Rückzug der Promis Volker Bouffier (CDU) und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) Chancen für die Grünen. Nutzen kann die im kommenden Jahr nach Mittwochabend aber nicht er, sondern nur Mirold-Stroh aus Gießen.
Dass die Grünen im Kreis Gießen weiter starken Zulauf haben, zeigt eine Zahl, die Alexander Wright im Rahmen des Kassenberichts nannte. Die aktuell 470 Mitglieder sind ein Höchststand. Acht neue Mitglieder, die erstmals an einer Parteiversammlung teilnahmen, stellten sich zu Beginn persönlich vor.
