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„Extremer Belegungsdruck“: Psychiatrie in Gießen arbeitet am Limit

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Von: Karen Werner

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Eigentlich waren die Container auf dem Vitos-Gelände nur als Übergangslösung geplant. Vorerst bleibt die Wohngruppe für Patienten auf dem Weg zurück in den Alltag aber bestehen. (Archivbild)
Eigentlich waren die Container auf dem Vitos-Gelände nur als Übergangslösung geplant. Vorerst bleibt die Wohngruppe für Patienten auf dem Weg zurück in den Alltag aber bestehen. (Archivbild) © Oliver Schepp

Hilferuf aus der Psychiatrie: Immer mehr als psychisch krank geltende Straftäter drängen sich in spezielle Kliniken – auch in Gießen.

Gießen – »Das System hätte kippen können«, sagt der Geschäftsführer. Ursache sind neben Corona und dem Personalmangel auch »Fehlanreize«; eine Folge mehr »Entweichungen«.

In den Forensik-Kliniken bundesweit drängen sich die psychisch kranken Straftäter - auch in Gießen. Von einem »extremen Belegungsdruck«, der »immer wieder« an die Kapazitätsgrenze führe, berichtet auf GAZ-Anfrage Matthias Müller, Geschäftsführer von Vitos Haina. Die Corona-Pandemie sei dafür nur ein Grund, meinen Fachleute. Die Betten würden zudem von Verurteilten blockiert, die eigentlich ins Gefängnis oder bereits in Eingliederungshilfe gehörten. Zugleich sei Personal knapp.

Psychiatrie in Gießen am Limit: Reformen nötig

Gesetzliche Reformen im Maßregelvollzug seien nötig, sagte Reinhard Belling, Geschäftsführer der hessischen Vitos-Kliniken, der Deutschen Presse-Agentur dpa. So winke bei einer Einweisung in die Psychiatrie eine frühere Entlassung. »Das ist ein Fehlanreiz.« Bei etlichen suchtkranken Tätern gebe es Hinweise darauf, dass sie in die forensische Psychiatrie eingewiesen werden, obwohl die Aussichten auf Therapieerfolg zu gering seien.

Grundsätzlich sind Patienten im Maßregelvollzug entweder psychisch krank, süchtig oder geistig behindert und galten deshalb zum Zeitpunkt ihrer Straftat als nicht oder vermindert schuldfähig. Laut dem hessischen Sozialministerium waren Ende vergangenen Jahres von 895 Maßregelvollzug-Plätzen in sechs Einrichtungen 884 belegt. Anfang 2016 habe die Zahl der Patienten noch bei 664 gelegen.

Müller skizziert die Situation in der Klinik Haina: Zusätzliche Behandlungsplätze seien unter anderem durch die Reaktivierung von Stationen am Standort Gießen geschaffen worden. Doch nur durch geschicktes Belegungsmanagement zwischen den Kliniken habe man »unter größten Anstrengungen die Aufnahmefähigkeit sichergestellt«.

„Meisterleistung“ in Gießen in Corona-Pandemie vollbracht

Dies sei auch der »herausragenden Arbeit« des Personals zu verdanken. »Ohne das hohe Ausbildungsniveau und die meist langjährige Erfahrung hätte das System kippen können.« Fast 40 Neueinstellungen im Pflegedienst zeigten, dass die Arbeitsbedingungen attraktiv seien. Dennoch sei es die größte Herausforderung, für die komplexen Aufgaben qualifizierte Mitarbeiter zu halten oder zu gewinnen. Ohne genug Personal könne ein Bett nicht belegt werden.

Besondere Anerkennung hätten die Mitarbeiter für ihre »Meisterleistung« in den zwei Corona-Jahren verdient, hebt Müller hervor. Die Pandemie-Belastungen seien vielfältig. Zum Hygienekonzept gehören eine Quarantänestation in Gießen für Neuankömmlinge, getrennte Patientengruppen in der Therapie und eingeschränkte Besuchsregelungen. »Und doch ist es zu Infektionen gekommen.« Folge: Eingeschränkte Behandlungskapazitäten, mehr Konflikte - und mehr Patienten, die abhauen.

33 »Entweichungen« und Ausbrüche zählte der hessische Maßregelvollzug 2021; doppelt so viele wie im Jahr zuvor (16). Acht Patienten entkamen in Haina oder Gießen. Einer ist noch flüchtig. Er befand sich bereits in der Vorbereitung auf die Entlassung. In jedem Fall würden die Ursachen aufgeklärt, versichert Vitos. Lockerungen gebe es nur, wenn das Behandlungsteam das verantworten kann.

Gießen: Wohngruppe in Psychiatrie hat sich bewährt

In aller Regel ist die Behandlung erfolgreich. Aber wohin mit »Gebesserten«, die nicht mehr als gefährlich gelten? Weil für sie Nachsorgeeinrichtungen fehlen, bleiben sie mitunter länger als nötig auf den Stationen. Deshalb hat die Gießener Klinik 2019 eine Wohngruppe auf ihrem Gelände an der Licher Straße gegründet.

Sechs einstige Rechtsbrecher leben in Wohncontainern und gewöhnen sich an einen selbstständigen Alltag. »Das Konzept hat sich bewährt. Seit Inbetriebnahme ist es zu keinen Zwischenfällen gekommen«, berichtet Müller. Eigentlich als Übergangslösung für zwei Jahre gedacht, werde die Gruppe vorerst weitergeführt, weil es zu wenige Alternativen gibt. »Mittelfristig sollen aber andere Lösungen gefunden werden.« (Karen Werner)

Betroffene und Angehörige hatten an der Vitos-Klinik in Gießen Ende vergangenes Jahr demonstriert. Die Vorwürfe der Demonstranten beinhalten Fixierungen von Patienten ohne richterliche Genehmigung, Behandlungen mit verschiedenen Neuroleptika ohne Aufklärung oder abrupte Absetzungen von Medikamenten.

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