Flüchtlingstransporte: Gießener RP-Mitarbeiter und Taxi-Unternehmer unter Korruptionsverdacht
Ein Gießener Taxiunternehmer und ein Mitarbeiter des Regierungspräsidiums sollen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mit erfundenen Fahrten Kasse gemacht haben. Der Schaden ist immens.
Schon seit über drei Stunden läuft im Saal 3 des Landgerichts am Donnerstag die Beweisaufnahme. Der fünfte der sechs geladenen Zeugen zieht plötzlich sein Smartphone aus der Jackentasche, hält es hoch und sagt: »Per WhatsApp hat er sich bei mir und den Kollegen entschuldigt. Er habe sich auf merkwürdige Weise da in etwas reinziehen lassen«, zitiert der Zeuge aus der Kurznachricht vom 20. Januar 2017.
Eine Woche zuvor hatte der Verfasser der Nachricht an seinem Arbeitsplatz in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) an der Rödgener Straße Besuch von der Kriminalpolizei erhalten. Dabei soll er seine Kollegen aus der Abteilung für die Weiterleitung von Asylbewerbern lauthals beschimpft haben. »Wir hätten ihn verpfiffen, hat er gerufen«, erzählt der Zeuge.
Gesamtschaden: 700 000 Euro
Die Vorwürfe gegen den RP-Mitarbeiter und einen Gießener Taxiunternehmer wiegen schwer. Über ein Jahr lang, von Oktober 2015 bis November 2016, soll der RP-Bedienstete Kostenübernahmen für Fahrten des Unternehmens ausgestellt haben, die nie stattgefunden hatten. Die erfundenen Transporte zur Weiterleitung von Flüchtlingen im Rahmen des sogenannten Easy-Systems führten unter anderem zu Aufnahmeeinrichtungen nach Zirndorf in Bayern, Eisenhüttenstadt in Brandenburg, nach Dortmund oder Bielefeld in Nordrhein-Westfalen.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sollen der Unternehmer und der Behördenmitarbeiter nach Recherchen des Regierungspräsidiums richtig Kasse gemacht haben. Mit 723 000 Euro gibt Beate Bremer, Richterin der 5. Zivilkammer, den ursprünglich vom RP festgestellten Schaden in der Verhandlung an. 120 000 Euro habe das Unternehmen mittlerweile zurückgezahlt, weitere 33 000 Euro habe das RP als rechtmäßige Kostenerstattungen anerkannt. So blieben die 570 000 Euro übrig, die das Land Hessen von dem Unternehmen zurückfordert und über die zivilrechtlich gestritten wird.
Vorwürfe: Untreue und Korruption
Parallel ermittelt die Gießener Staatsanwaltschaft gegen den Taxiunternehmer und den früheren RP-Bediensteten. Bei ihm besteht der Verdacht auf Untreue, beim Transportunternehmer auf Anstiftung zur Untreue und bei beiden auf Korruption. »Die Ermittlungen stehen vor dem Abschluss«, erklärt am Freitag Rouven Spieler, Pressesprecher der Gießener Staatsanwaltschaft.
Dass die strafrechtlichen Ermittlungen noch laufen, beeinträchtigt das Zivilverfahren. »Die Staatsanwaltschaft hat die Akte nicht herausgegeben«, sagt Richterin Bremer zu Beginn der Verhandlung. Für eine Verschiebung des Zivilprozesses, bis ein Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen vorliegt, sieht die Richterin keine Veranlassung: »Mal sehen, wie weit wir heute kommen«.
Es war so viel los damals
Zeuge beim RP
Der Rechtsanwalt des Taxiunternehmers stellt den Anspruch des RP in Frage: »Es gab viel Durcheinander damals. Es wurde doch mit Kostenübernahmen gewedelt, damit die Fahrten gemacht wurden. Die können nicht alle registriert worden sein. Das kann nicht stimmen in dieser Dimension«. Die Anwältin des RP und eine Juristin der Behörde widersprechen: »Alle Fahrten wurden registriert. Wir können das genau aufschlüsseln, und es gab nur bei dem einen Unternehmen diese Unregelmäßigkeiten.«
Gleichwohl wird durch die Aussage eines früheren Mitarbeiters der Abteilung für die Weiterleitung deutlich, dass es die Beschleunigung von Abläufen dem mutmaßlichen Betrüger einfacher machte, die Kostenübernahmen zu fingieren. »Es war so viel los damals. Ein Vorgesetzter sagte mir, wir müssen die Leute schneller weiterleiten«, erzählt der Zeuge. So seien die Kostenübernahmen maschinell und nicht mehr handschriftlich abgezeichnet worden. Zudem hatte der beschuldigte RP-Mitarbeiter offenbar Zugang zu den Passworten seiner Kollegen, weil er die Accounts für die Aushilfskräfte einrichtete. So konnte er unter den Namen seiner Kollegen Kostenübernahmen bewilligen.
Maschinell statt handschriftlich
Durch einen Zufall stieß dann Anfang November 2016 ein Mitarbeiter der Abteilung auf einige Fahrten, die ihm merkwürdig vorkamen. Er weihte einen Kollegen ein. Nach Feierabend durchforsteten die beiden stichprobenartig die Kostenübernahmen, glichen Daten aus dem internen RP-System mit dem bundesweiten Easy-System ab und wurden fündig. Unter anderem stellten sie fest, dass es immer dann, wenn der verdächtigte Kollege Urlaub hatte, keine falschen Fahrten gab. Die beiden informierten ihre Vorgesetzten, die internen Ermittlungen wurden ausgeweitet. Zunächst wurde Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt, ehe Anfang Dezember 2016 der Strafantrag gegen den besagten Mitarbeiter folgte. Bis die Kripo schließlich im Januar 2017 dessen Büro und Privathaus durchsuchte, sei die Stimmung in der Abteilung »unerträglich« gewesen, sagt ein Zeuge.
Wie das RP am Freitag mitteilt, ist das Arbeitsverhältnis zwischen dem Land Hessen und dem verdächtigten Mitarbeiter beendet worden. Das Zivilverfahren soll am 23. Mai mit der Verkündung eines Urteils beendet werden. Der Anwalt des Taxiunternehmers hat gemäß Zivilprozessordnung beantragt, den Prozess bis zum Abschluss des Strafverfahrens auszusetzen.
Info
Easy-System
Das Easy-System ist eine IT-Anwendung zur Erstverteilung von Asylbewerbern auf die Bundesländer. Die Asylbewerber werden damit zahlenmäßig auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Die quotengerechte Verteilung erfolgt unter Anwendung des sogenannten »Königsteiner Schlüssels«. Da in Gießen vor allem auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 deutlich mehr Flüchtlinge ankamen, als Hessen aufnehmen musste, gab es täglich teilweise weite Transfers mit Bussen und Taxen in andere Bundesländer.