Verkehrsversuch am Anlagenring: „Die Fachwelt schaut auf Gießen“
Wer als Gießener im Bekanntenkreis das Thema Verkehrsversuch am Anlagenring anspricht, erntet meistens Augenrollen. Experten haben einen völlig anderen Blick auf den umstrittenen Versuch.
Gießen - Der Innenstadtring von Gießen sei das »pulsierende Herz« des Leipziger Autoverkehrs, dort bewegten sich täglich im Schnitt 31 000 Autos. Doch die Kraftfahrzeuge verfügten nun nur noch über halb so viel Platz, denn ein frisch aufgemalter grüner Radstreifen nehme neuerdings eine ganze Autofahrspur ein. Daneben bildeten sich jeden Tag lange Staus. So berichteten lokale Medien in der sächsischen Messestadt im vergangenen Mai über eine einschneidende Veränderung im Stadtverkehr, zu der die Stadt Leipzig auch durch ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts gezwungen wurde.
Gießen, wo im kommenden Frühsommer der Versuch mit separaten Radspuren auf dem inneren Anlagenring starten soll, ist bei Weitem kein Einzelfall, wissen die Experten der Planersocietät aus Dortmund. Ähnliche Überlegungen wie in Gießen, die teilweise bereits umgesetzt worden seien, seien in Leipzig, Dortmund, Köln oder Unna angestellt worden, berichten die Experten aus Dortmund in ihrer einmal im Jahr erscheinenden Firmen- und Fachzeitschrift »ProjektSkizzen«.
Verkehrsversuch in Gießen: In vielen Städten herrscht eine ähnliche Situation
Der »Gießener Lösung« wurde in der Ausgabe vom Herbst 2022 von den Planern aus Dortmund, die von der Stadt Gießen mit der Erstellung der Machbarkeitsstudie für den Verkehrsversuch beauftragt worden waren, eine ganze Seite gewidmet. Warum, erklärt Raum- und Verkehrsplaner Christian Bexten in seinem Vorwort: »Die Fachwelt schaut auf Gießen, denn in vielen Städten gibt es ähnliche Straßenstrukturen.«
Die Planer aus Dortmund und Hamburg (Büro Gertz, Gütsche, Rümenapp) hatten der Stadt Gießen die Umsetzung einer derzeit in der Feinplanung befindlichen Variante empfohlen, bei der auf den beiden inneren Fahrspuren eine Fahrradstraße mit Zweirichtungsverkehr eingerichtet wird und auf der zudem die Busse verkehren, die ihre bisherigen Haltestellen weiter anfahren können. Der Autoverkehr wird auf den beiden äußeren Fahrspuren als Einbahnstraße gegen den Uhrzeigersinn geführt.
Gießen: Alle Anliegergrundstücke am Anlagenring sollen erreichbar bleiben
Vor den großen Parkhäusern, die sich innerhalb des Anlagenrings befinden (Neustädter, Karstadt, Westanlage), wird auf den Autospuren eine kurze Zufahrt im Begegnungsverkehr ermöglicht, um lange Umwegfahrten zu vermeiden. Auch alle Anliegergrundstücke am Anlagenring sollen erreichbar bleiben.
Die wichtigste Botschaft für die heimische Wirtschaft und vor allem den Einzelhandel war dabei die Aussage, dass der Pkw-Verkehr nicht zum Erliegen kommen wird und ein »ausreichender« Verkehrsfluss gewährleistet bleibe. Diese Erwartung hat Raum- und Verkehrsplaner Bexten mit Verweis auf die Modellberechnungen in seinem Beitrag bekräftigt. In dem Text ist von »kleineren Stockungen und Rückstauungen« die Rede.

„Ergebnisoffenes“ Verkehrsexperiment in der Gießener Innenstadt
Auf dem Anlagenring, an dem es bislang nur straßenbegleitende Radstreifen an der Ostanlage gibt, führe der Versuch zu einer »radikalen« Veränderung. Auch deshalb finde das Vorhaben bundesweit Beachtung. Im Rahmen des Gießener Versuchs, dessen Kosten von der Stadt Gießen noch nicht aktualisiert worden sind, könnten »weitreichende Erkentnisse einer stark in die Struktur eines städtischen Straßensystems eingreifenden Maßnahme« gewonnen werden. Bexten spricht von einem »echten Versuchscharakter«, der neben einer deutlichen Verbesserung für den Radverkehr auch die Chance biete, die Erschließung der Innenstadt neu zu ordnen.
Eine Erfolgsgarantie gibt der Planer aber nicht ab. Die »Gießener Lösung« stelle in ihrer Konsequenz einen »neuartigen und experimentellen Ansatz« dar und sei »ergebnisoffen«. (Burkhard Möller)
Bereits im Oktober kommt es zu einer kleinen Verkehrs-Revolution in Gießen: Die östliche Innenstadt wird zur Fahrradzone. Der Parksuchverkehr zum Brandplatz wird mit einer Sperre unterbunden.