Facettenreiche Interpretationen

Gießen (jou). Im Vorfeld des Heinrich-Schütz-Festes bot das Sächsische Vocalensemble in der Bonifatiuskirche eine Gegenüberstellung von Motetten Heinrich Schütz’ und Hugo Distlers. Die 1648 veröffentlichte, aus insgesamt 29 Stücken bestehende »Geistliche Chormusik« von Schütz gilt als bedeutendste deutsche Motettensammlung des Frühbarocks. Eben darauf bezieht sich Hugo Distler, ein Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik, in seiner gleichnamigen, 1934-42 entstandenen Sammlung.
Das Sächsische Vocalensemble unter Leitung von Matthias Jung zeichnete die Polyphonie recht anschaulich, so mutete die klangliche Balance zwischen den Stimmlagen stets ausgewogen an. Bei guter Textverständlichkeit gefiel der Vortrag bis hin zu Feinheiten in Betonung und Phrasierung. Dies zeigte sich in Schütz’ »Verleih uns Frieden genädiglich«, ebenso in weiteren Motetten wie »Das ist je gewisslich wahr«. Nicht nur bei letzterer Komposition offenbarte sich die Vorbildwirkung auf Hugo Distler, der an den frühbarocken Geist aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts anknüpft. Distlers »Singet dem Herrn ein neues Lied« weist eine fein gehandhabte Satztechnik auf: Die Motette beginnt frei im Zeitmaß mit jubilierenden Melismen, bis Vierstimmigkeit erreicht ist. Der musikalische Aufbau ist - wie bei Schütz - wortdienlich, zudem berücksichtigt die Melodienbildung den Atem der Sänger. Wortwiederholungen nuancieren die inhaltliche Aussage. Dies gilt auch für »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, wo Distler dem eröffnenden Appell kompositorisch Nachdruck verleiht. Die Interpretation des Vocalensembles verband Werktreue mit Lebendigkeit und Facettenreichtum; klanglich anmutig traten Solistinnen hervor.
Bis zum Schluss behielt das Ensemble seine klar konturierte Vortragsweise bei. Besonders berührte mit der Sehnsucht nach ewigem Leben Distlers »Ich wollt, dass ich daheime wär« durch die subjektive Note. Gleichermaßen nahe ging Schütz’ ähnlich ruhige Motette »Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben«.
Das Konzert erwies sich als würdige Doppelhommage zu Schütz’ 350. und Distlers 80. Todestag. Tragisch an Distlers Schicksal: Er konnte sich im Nationalsozialismus nicht frei entfalten und wählte 1942 den Freitod. Nach dem feierlichen »Abendlied eines Reisenden« (1932) und »So fahr ich hin zu Jesu Christ« (SWV 379) dankten die Hörer dem Ensemble mit herzlichem Beifall.