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»Es knallt und der Lappen ist weg« - Verkehrspsychologe gibt Einblick in die MPU

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Von: Sophie Röder

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Wer regelmäßig zu schnell fährt, riskiert erwischt zu werden und womöglich die Fahrerlaubnis zu verlieren. Bei der medizinisch psychologischen Untersuchung, kann man diese zurückerlangen. SYMBOLFOTO: SCHEPP © Oliver Schepp

Jeder Autofahrer weiß, wer zu viele Punkte sammelt, verliert die Fahrerlaubnis und muss zur MPU. Doch was passiert da? Der Gießener Verkehrspsychologe Matthias Härtl erklärt es.

Herr Härtl, welche Personen kommen zur MPU?

Diese Leute sind in überwiegenden Fällen in der Vergangenheit in eine Notlage geraten, in der sie sich nicht zu helfen gewusst haben. Und sie versuchen, diese in dysfunktionaler Weise in Eigenregie zu lösen. Das funktioniert eine gewisse Zeit, aber irgendwann nimmt das individuelle Problem überhand.

Und dann?

Dann steigt die Wahrscheinlichkeit für Verkehrsdelikte, da sich das Problem in den Straßenverkehr verlagert. Weil es zu groß wird. Mit der zunehmenden Anzahl von Delikten steigt die Auffallenswahrscheinlichkeit und irgendwann knallt’s. Dann ist der Lappen weg.

Worum geht das psychologische Gespräch der MPU?

Die Fragestellung bezieht sich auf das, womit die Klienten im Straßenverkehr auffällig geworden sind. Die vier Grundanlässe sind Alkohol, Drogen, die Punkteproblematik, also verkehrsrechtliche Delikte, und, was viele nicht wissen, allgemein strafrechtliche Vergehen, die einen Hinweis auf ein erhöhtes Aggressionspotenzial haben, was Auswirkungen auf den Straßenverkehr haben könnte.

Haben Sie ein Beispiel für ein erhöhtes Aggressionspotenzial?

Ein klassisches ist ein Klient, der eine Impulskontrollstörung hat. Vor ihm fährt jemand nicht so, wie er es will. Er fährt vor ihn, bremst ihn aus, steigt aus, reißt die Tür auf und gibt ihm eins auf die Zwölf. Weil er mit seinen Impulsen nicht gezielt umgehen konnte. Das passiert, weil er sich im Straßenverkehr ständig frustriert fühlt. Dann wird die Ampel rot, oder der andere will ihn nicht reinlassen, aber er hat es eilig. Er ist gestresst, und muss ständig aufpassen, dass er nicht die Kontrolle über sein Verhalten verliert. Wer hier Schwierigkeiten hat, neigt eher dazu, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die nicht regelkonform sind. Die einfachen Ausprägungen sind Geschwindigkeitsüberschreitungen. Die extremen sind, wie dieses Beispiel, aber Ausnahmen.

Wieso fühlen sich manche erst ab einer hohen Geschwindigkeit frei?

Ich kenne wenige, die das Gefühl der Freiheit verspüren, wenn sie schnell fahren. Die meisten fühlen sich unter extremem Zeitdruck, weil sie sich so viele Belastungen aufgeladen haben, dass sie versuchen, die Zeit auf der Straße reinzuholen, was dauerhaft nicht klappt, sondern nur das Punktekonto füllt. Das Gerücht vom Freifühlen kommt von Klischees, wie »freie Fahrt für freie Bürger«. Es gibt Menschen, die gerne rasen, weil es einen Geschwindigkeitsrausch gibt, die meisten aber nicht.

Was halten Sie von einem Tempolimit?

Ein Tempolimit ist eine vernünftige Sache. Wenn man bedenkt, dass Geschwindigkeit die Hauptursache für Unfälle und Todeszahlen ist. Wer verstanden hat, wo die Notwendigkeit liegt, ordnet sich unbewusst dem Tempolimit unter und fährt durch den Blitzer ohne zu merken, dass er da ist. Die Person ist viel entspannter und weniger gestresst. Was bedeutet, dass sie bereit ist, ihr Leben in anderen Bereichen so zu strukturieren, dass sie ohne Druck Auto fahren kann. Man muss verstehen, dass man nichts verliert, wenn man auf der Autobahn »nur« 120 oder 130 fährt. Aber, wir sind sehr spitzfindig darin, Regeln auszuhebeln oder nach eigenem Ermessen für uns auszulegen. Wenn mir jemand sagt, er fahre nie zu schnell, glaube ich das nicht. Idealzustände gibt es nicht. Wer achtsam und bewusst mit der Fahrerlaubnis umgeht, den oder die werde ich hier nie zu Gesicht bekommen.

Wenn jemand vor Ihnen sitzt, erkennen Sie, mit welchem Problem er kommt?

Man erkennt manchmal, mit welcher Problematik die Klienten kommen. Manchmal erkennt man, welches Suchtmittel sie in der Vergangenheit konsumiert haben. Einem Alkoholiker sieht man oft die Folgen an. Manchmal erkennt man auch, ob es eher ein Cannabis-Konsument ist, oder jemand, der Amphetamine oder Kokain genommen hat.

Hängen bestimmte Vergehen mit dem Alter zusammen?

Es gibt eine interessante Entwicklung: Reine Alkoholdelikte sind eher rückläufig, wogegen reine Drogendelikte eher zunehmen. Bei Drogendelikten sind es eher jüngere als ältere, bei Alkoholdelikten verhält es sich eher umgekehrt. Man kann es nicht pauschal sagen, aber es ist ein Trend, der sich abzeichnet. Man kann auch sagen, dass Punktetäter überwiegend männlichen Geschlechts sind, wobei ich beim jüngeren Klientel feststelle, dass der Anteil von Frauen zunimmt. Aber das sind meine subjektiven Eindrücke.

Was wäre ein »typischer« Punktetäter?

Ein Beispiel für einen Punktetäter ist aus meiner persönlichen Erfahrung oft jemand, der selbstständig oder in einer Position mit einer hohen Verantwortung ist, mit dem Problem, Verantwortung nicht delegieren zu können. Er meint, er muss alles selbst machen. Und lädt sich mehr auf, als er schaffen kann. Er hat oft eine schlechte Terminplanung. Obwohl er weiß, er schafft 120 Kilometer nicht in einer halben Stunde, hat er die Termine trotzdem so getaktet, und versucht, die Zeit auf der Straße herauszuholen.

Wann ist der richtige Zeitpunkt für die MPU?

Die Klienten sollten zu uns kommen, wenn sie in der Lage sind, zu reflektieren, was passiert ist und was der Auslöser war. Dann belegen können, dass sie ihr Verhalten geändert haben und in der Lage sind, das auch in kritischen Situationen aufrechtzuerhalten.

Wann endet die psychologische Begutachtung?

Ich bin angehalten, solange mit dem Klienten zu reden, bis ich die Fragestellung der Behörde beantworten kann. Sie will wissen, liegt Fahreignung vor, ja oder nein. Das soll mir der Klient am Untersuchungstag darlegen. Wenn ich die Frage eindeutig beantworten kann, muss ich das Gespräch beenden.

Wie lange dauert ein Gesprächstermin?

Ich spreche mit dem Klienten bis ich die Fragestellung beantworten kann. Das kann nach fünf Minuten der Fall sein, es kann nach eineinhalb Stunden der Fall sein. Im Schnitt dauert es 45 bis 50 Minuten. Das hängt auch ab von der Fragestellung, der Erfahrung des Gutachters und wie offen der Klient kooperiert.

Was für Fragen erwartet jemanden zum Beispiel bei einem Alkoholverstoß?

Ich sage ihm, an diesem Tag ist er aufgefallen, mit so und so viel Promille Alkohol im Blut. Ich frage, warum er an dem Tag Alkohol getrunken hat. Und wie viel. Ich möchte einen Eindruck bekommen, was an dem Tag passiert ist und warum. Ich möchte einen Eindruck dafür bekommen, wie häufig das passiert ist und wie es sich entwickelt hat. Seit wann geht das Verhalten so? Gab es einen Auslöser? Dann will ich wissen, was die Motivation war, warum die Person getrunken hat. Wie schätzt sich der Klient ein, sieht er, dass er ein Alkoholproblem hat oder nicht? Wenn es kein Problem gab, warum will er was ändern? Was hat sich verändert, dass er es nun anders sieht. Warum möchte er das Leben verändern, auch über den Prozess der MPU hinaus. Und dann frage ich, wie sieht das Trinkverhalten heute aus. Wie geht er damit um, wie löst er Probleme heute? Ich versuche ein möglichst vollständiges Bild von dem Klienten zu bekommen, um eine abschließende Beurteilung abgeben zu können.

Was wird von einer Person erwartet, die die MPU bestanden hat?

Die Erwartungshaltung ist nicht, zu sagen, wenn die Leute hier durch sind, sind es Vorzeige-Autofahrer. Nein. Sie ist, dass die Leute, wenn sie den Prozess ernst betreiben, im Nachhinein so in der Menge mitschwimmen, dass sie im Verhältnis nicht mehr auffallen als alle anderen. Es heißt nicht, dass die Leute ohne Punkt fehlerfrei fahren, sondern sie fahren so, dass sie nicht auffallen. Das ist, was man haben möchte, dass eine Person unauffällig am Straßenverkehr teilnehmen kann. Je unauffälliger, desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert.

Wenn jemand untauglich ist, kann er erneut vorstellig werden?

Die Klienten können die MPU so oft durchlaufen, wie sie wollen. Die grundlegende Haltung ist, wenn ein Mensch Schwierigkeiten hat, hat er die Chance verdient, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Im Idealfall ist es so, dass der Klient erkannt hat, dass er ein Problem hat. Also, dass es nicht rein außerhalb seiner Person liegt, sondern zu einem Großteil in seiner Person selbst begründet ist. Er hat Maßnahmen ergriffen - im Idealfall mit therapeutischer Unterstützung -, um das Problem zu erkennen, zu bearbeiten und geeignete Vermeidungsstrategien zu entwickeln, um mit dem neuen Verhalten besser klarzukommen. Wenn er das nachvollziehbar darlegen kann, kann man wieder von seiner Eignung ausgehen und er bekommt eine positive Prognose.

Wie viele Personen bestehen die MPU beim ersten Versuch?

Der überwiegende Teil besteht die MPU. Die Wahrnehmung ist eine andere: Es gibt Klischees, wie: »Die erste MPU wird immer negativ, oder du hast keine Chance, die machen mit dir, was sie wollen.« Wir machen nicht, was wir wollen, sondern was wir müssen. Dafür gibt es wissenschaftlich begründete Kriterien und Leitlinien. Grob kann man sagen, dass 60 Prozent direkt bestehen. Die meisten verstehen: Ich habe ein Problem. Ich muss etwas ändern, es liegt an mir, etwas zu tun.

Hintergrund zur medizinisch psychologischen Untersuchung (MPU)

Die Fahrerlaubnisbehörde veranlasst eine medizinisch psychologische Untersuchung, kurz MPU, wenn eine Person im Straßenverkehr so auffällig geworden ist, dass sie die Verkehrssicherheit gefährdet. In Punkten ausgedrückt: Sobald jemand acht oder mehr Punkte erreicht hat, oder falls mit einem schweren Vergehen direkt drei Punkte erreicht wurden. Bei der MPU wird die Person hinsichtlich medizinischer, körperlicher und geistiger Voraussetzungen überprüft. Die der psychischen Leistungsfähigkeit mittels Leistungstests, die körperliche Tauglichkeit bei der medizinischen Untersuchung und die charakterliche Eignung bei einem Gespräch mit dem Verkehrspsychologen.

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