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»Es geht um Würde«

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Von: Sonja Schwaeppe

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Ernst-Ulrich Huster bei seinem Festvortrag über 40 Jahre Jugendwerkstatt Gießen. © Sonja Schwaeppe

Gießen (son). Ein Blick auf 40 Jahre Jugendwerkstatt Gießen bedeutet, auch die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Bedingungen der vergangenen Jahre näher in Augenschein zu nehmen. Dies tat Prof. Ernst-Ulrich Huster bei seinem Festvortrag im Kaufhaus der Jugendwerkstatt. Im Anschluss sprach Huster gemeinsam mit Landrätin Anita Schneider, Pfarrer Dr.

Gabriel Brand und Oberkirchenrat Christian Schwindt im direkten Kontakt mit dem Publikum über die aktuellen Herausforderungen, denen sich die Jugendwerkstatt stellen muss.

Der Politikwissenschaftler und Pionier der Reichtums-und Armutsforschung ging in seinem Vortrag zunächst auf den Begriff Erwerbsarbeit ein. »Die Erwerbsarbeit ist heute die sozialpolitisch im Vordergrund stehende Form von Arbeit«, sagte er. Dies bedeute zugleich, dass es jedem Einzelnen zugerechnet werde, wenn er keine Arbeit findet. »Nichtbeschäftgung wird individualisiert.« Nachfragedefizite würden dagegen sozialisiert und dem Markt zugerechnet. In den 70er Jahren stieg die Zahl der Arbeitslosen massiv an, der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft sorgte für hohe Arbeitslosigkeit bei bestimmten sozialen Gruppen. »Der Staat strich Sozialleistungen zusammen, die Kommunen sprangen als »Sozialstaat in Reserve« ein«, so Huster. Auch Armut trat alsdann als Massenphänomen auf. Besonders betroffen waren diejenigen, die keinen Schul- oder Berufsabschluss hatten. Die Hessisch-Nassauische Landeskirche betrieb in jenen Zeiten eine Beratungsstelle für jugendliche Arbeitslose in Gießen und stellte dann 1982 die Ressourcen für den Aufbau der Jugendberufshilfe zur Verfügung.

Christliche Werte vertreten

Die Jugendwerkstatt vertrat und vertritt christliche Werte wie die Wahrung der Würde jedes Einzelnen, die Idee einer inklusiven Gesellschaft, einer ökologischen Ausrichtung sowie auch die Fähigkeit, andere gesellschaftliche Kräfte an ihre Pflichten zu erinnern.

Als die Hartz-IV-Gesetze im Jahr 2005 geschaffen wurden, sollten Menschen nach der Maxime »Fordern und Fördern« in den Arbeitsmarkt integriert werden, so die Idee. Huster ging auf eine Studie von Johannes Schütte ein, der an der Uni Gießen über die Vererbung von Armut geforscht hatte. »Bestimmten Gruppen fehlen die Fähigkeiten, Aneignungsangebote zu erkennen und zu nutzen«, stellte Huster fest. Dieser Mangel an Fähigkeiten werde den Betroffenen wiederum persönlich zur Last gelegt. »Die Jugendwerkstatt habe hier bedarfsgerecht und am Einzelnen und seinen Fähigkeiten orientiert Angebote geschaffen. »Letzlich ist aber die soziale Integration von Menschen auch eine öffentliche Aufgabe, und die Jugendwerkstatt ist von öffentlichen Geldern abhängig.«

Schlimm sei, dass beim Rückgang der Arbeitslosigkeit Kürzungen pauschal beschlossen würden und damit die Personengruppe treffe, die nichts von dem dynamischen Arbeitsmarkt habe. Soziale Einrichtungen wie die Jugendwerkstatt, die den Einzelnen unterstützen, helfen zugleich auch der Gesellschaft. Soziale Integration solle auch jenseits des Erwerbsarbeitsmarktes möglich sein. »Arbeit ist soziales Tun, Arbeit integriert, Arbeit ist alltägliche Sinnerfüllung - Arbeit ist Leben und darauf hat jeder und jede ein unaufgebbares Menschenrecht.«

Menschen Zeit verschaffen

Landrätin Anita Schneider bekräftigte, dass der Landkreis um die gute Arbeit der Jugendwerkstatt wisse und die Einrichtung weiterhin begleiten und unterstützen werde. »Auf uns kommen viele Herausforderungen zu - das beginnt bereits bei der Teilhabe an frühkindlicher Bildung. Stichwort Kita-Plätze und Mangel an Personal.« »Der Arbeitsmarkt regelt nicht alles, auch wenn es ein guter ist«, meinte Huster dazu. Wirkliche Chancengleichheit brauche spezielle Angebote. Es sei auch die Aufgabe des Landkreises, sich für diese überbetrieblichen Angebote starkzumachen, egal wie sich die Arbeitsmarktlage darstelle. »Es geht gerade im theologischen Kontext immer um jeden Einzelnen und seine Würde«, ergänzte Oberkirchenrat Schwindt. Stadträtin Astrid Eibelshäuser, die im Publikum saß, wies abschließend darauf hin, dass nicht viele Einrichtungen dieser Art 40 Jahre überstanden hätten. »Die Jugendwerkstatt verschafft Menschen die Zeit, die sie brauchen - egal wie der Arbeitsmarkt aussieht.«

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