Eine im positiven Sinn irritierende Mischung

Gießen (clg). Die mittlerweile fünfte Ausgabe des »Hungry Eyes Festival« fand am Wochende im KiZ statt. Aus über 570 Einreichungen hatte das zehnköpfige Team, vornehmlich Absolventinnen und Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen und nun selber künstlerisch tätig, 22 Kurzfilme in der Hauptkategorie ausgewählt, dazu sechs für eine sogenannte »Trash Night« sowie sechs Installationen und zwei Performances.
Ein durchaus anstrengender Prozess, welcher fast ein ganzes Jahr in Anspruch nahm. Und es ist, dies war an allen drei Tagen zu sehen, dem Team gelungen, eine sehr anregende, intelligente und im positiven Sinn irritierende Mischung zusammenzustellen.
Drei Kurzfilmblöcke im Zentrum
Im Zentrum des Festivals standen drei Kurzfilmblöcke. Besonders eindrücklich der zweite Block, der aus vier sogenannten Shorts, die ukrainische Künstlerinnen und Künstler zwischen 2018 und 2021 gedreht hatten, bestand. In »My Cosmos« kehrt die Regisseurin in ihre Heimatstadt zurück, gekleidet in einen alten Kosmonautenanzug, und streift sich erinnernd durch die runtergekommenen Straßen ihres alten Viertels. Im Hintergrund stets das dieser Tage umkämpfte Atomkraftwerk Saporischschja. Und in »Khayt«, ein Synonym für eine vom Filmemacher erfundene Musikrichtung, ein Mix aus der alten Musik der Asow-Griechen und brachialem Techno, fährt eine ruhige Kamera durch ein fiktives Mariupol im Jahre 2068, in dem dort ein riesiges Kunstfestival stattfinden soll, und blickt in grauen, schmerzlich melancholischen Bildern auf das Asowsche Meer und das Stahlwerk, in dem sich wochenlang ukrainische Kämpfer verschanzt hatten.
Familientrauma und Körperlichkeit
Anrührend auch »Töchter«. Drei junge Filmemacherinnen befragen in künstlichen Settings ihre Eltern. Die eine über ein vom Vater verursachtes Familientrauma, die andere über die wachsende Entfremdung zu den Eltern und eine dritte über die Angst vor dem Tod des sehr alten Vaters, der sich aufgegeben hat. Einfach und ehrlich erzählte kleine Geschichten mit großer Wirkung.
Gegenstand vieler Filme ist immer wieder der Körper. Vor allem der weibliche, oft geschunden, unterdrückt, vergewaltigt. In mehreren Beiträgen erobern die Frauen ihren eigenen Körper quasi wieder zurück. Singend und tanzend. Oder wie in der wüsten und extrem lauten Performance von Putasagrada, selbsternannte »first brasilian to become princess of europe«, die unter Einsatz aller Körperöffnungen und -flüssigkeiten das meist weiße Publikum erst erstarren und dann im wahrsten Sinne des Wortes nach ihrer Pfeife tanzen lässt.
Beeindruckend auch die Internationalität der Beiträge. Brasilien, der Iran, Kanada, Polen, Simbabwe, USA, Palästina, um nur einige der Herkunftsländer zu nennen. Überhaupt fiel auf, dass die Auswahl der Beiträge von einer starken Neugier auf Welt geprägt war, der Blick immer über den eigenen Tellerrand gerichtet war, dies wohltuend in einer Zeit, in der das Land um Tankrabatte, Duschzeiten und verlorene Gepäckstücke kreiselt.
Und dann noch eine gelungene Mischung zwischen ausgefeilter Technik, die alle Künstlerinnen und Künstler virtuos beherrschen und einer altvorderen Bewegungsart. In seiner Installation »1984 is now« fährt Jafar Hejazi Freiwillige in einer Art von Gepäckkarre einmal um die Kongresshalle. Als erstes drückt er ihnen einen großen Würfel in die Hand und sie dürfen eine der sechs zur Verfügung stehenden Geschichten auswürfeln. Während sie dann über die VR-Brille ein Mädchen auf den Friedhof in Teheran begleiten, das dort seine verstorbenen Eltern besucht, und man danach halsbrecherisch über eine virtuell vielbefahrene Kreuzung in der iranischen Metropole geschoben wird, rauscht in den Ohren der Verkehr am Berliner Platz. Eine sehr eindrückliche Kurzreise.
Besser an einem anderen Termin?
Ein entspanntes und inspirierendes langes Wochenende, welches leider unter etwas bescheidenem Besuch litt. An den drei Tagen sah man doch meist dieselben Gesichter. Vielleicht sollte man das nächste Festival nicht in den Sommer- und Semesterferien ansetzen. Und eine kleine Bude im japanischen Garten der Kongresshalle verkaufte zu fairen Preisen gut gekühlte Getränke. Schön war’s.
Wer nicht dabei war, ein Besuch auf der Webseite des Festivals hungryeyesfestival.de lohnt sich unbedingt.

