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»Eine extrem anregende, tolle Zeit«

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Von: Karola Schepp

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oli_miville3_200422_4c_1 © Oliver Schepp

20 Jahre lang hat Intendantin Cathérine Miville die Geschicke des Stadttheaters gelenkt. Nun nimmt sie Abschied vom Haus und erzählt im Interview, wie sie die zwei Jahrzehnte auf und hinter der Bühne erlebt hat.

Als Sie 2002 hier anfingen, war das mutig. Sie hatten zuvor noch kein Theater geleitet.

Ja, aber Verantwortung hatte ich vorher als Geschäftsführerin der Lach- und Schießgesellschaft auch. Verantwortung hat mich also nicht geschreckt. Ich wollte von Anfang an an ein Mehrspartenhaus, bei dem die Ensembles auch gemeinsam agieren können. Ich hatte zwar zuvor nie ein Musiktheater geleitet, aber kannte die Struktur: Ich habe Regieassistenzen gemacht, in der Disposition gearbeitet. Aber es gab eben eine lange Pause dazwischen.

Es war Ihnen immer wichtig, dass die drei Sparten aktiv bedient werden.

Wir hatten immer Spartenleiter. Als ich angefangen habe, hatte Martin Apelt gerade ein Jahr zuvor als Schauspieldirektor angefangen. Da habe ich gesagt, er soll erst mal weitermachen. Es wäre albern gewesen, ein Team, das gerade anfängt, auszutauschen. Dann gab es ein Musiktheaterensemble, das wir nicht übernehmen konnten, weil wir den Spielplan umgestellt hatten. Operndirektor Joel Revelle wollte Belcanto machen. das hat den Nerv der Stadt getroffen.

Sie hatten damals keine große Affinität zum Tanz!

Affinität schon, aber nur sehr wenig Ahnung. Das ist eine eigene Welt. Hier gab es zwar eine Compagnie, aber die wurde kaum zur Kenntnis genommen. Bekannte habe ich um Rat gebeten. Ein ehemaliger Ballettdirektor empfahl mir Tarek Assam. Als Glücksgriff erwies sich auch Lukas Noll, der als Ausstattungsleiter in allen Sparten für grandiose Bühnen- und Kostümbilder stand. Als dann noch die Zusage von Abdul M. Kunze vorlag, das Kinder- und Jugendtheater zu übernehmen, und die musikalischen Aufgaben vergeben waren, hatten wir alle Sparten hochkompetent besetzt und konnten loslegen.

Und dabei hatten Sie unerwartet Unterstützung...

Das war ein ganz unbeabsichtigter Erfolg in der Öffentlichkeitsarbeit: Wir hatten Schülerpraktikanten im Haus, aber die fanden es langweilig. Mit Abdul war ich mir einig, dass wir das nicht so machen können. Wir haben ein Konzept gemacht, ihnen etwas über Theaterberufe erzählt, sie durchs Haus geführt, in Abteilungen mitarbeiten lassen. Irgendwann haben wir gemerkt, dass das unheimliche PR war.

Sie wollten mehr als 100 000 Zuschauer im Jahr haben, was lange nicht mehr der Fall war.

Insgesamt scheint die Mischung gestimmt zu haben: Wir hatten schon gleich in der ersten Spielzeit mehr als 100 000 Zuschauer. Ich bin nicht angetreten und habe dem Aufsichtsrat etwas über Zahlen erzählt. Aber ich habe natürlich gesagt, dass die drei Sparten bleiben müssen, und dazu das Kindertheater. Das habe ich bewusst nicht mit einem eigenen Ensemble besetzt. Ich wollte, dass es alle machen. Das wertet Kinder- und Jugendtheater auf.

Wollten Sie erst mal sehen, was Sie vorfinden?

Ich hatte ein Jahr Vorbereitungszeit und sehr engen Kontakt mit meinem Vorgänger Guy Montavon. Er hat mich sozusagen in die Stadt gebracht, mich zu Veranstaltungen mitgenommen. Er hat uns aber absolut machen lassen. Ich konnte alles fragen, bekam alles gezeigt. Das war goldrichtig. Ich wusste, wenn ich eine Frage habe, wem ich sie in der Stadt stellen konnte. Das ist das Wichtigste. Es ging auch darum, Themen aufzunehmen, und mit dem Team an profilierten Spartenleitern, die teils die Stadt schon kannten, zu schauen, was wir machen. Als Martin Apelt wegging, habe ich mit der Künstlervermittlung telefoniert und gesagt, dass nun Dirk Olaf Hanke nach Gießen kommt. Da bekam ich zu hören, »Wie viel Kompetenz wollen sie sich noch ins Haus holen. Glauben Sie nicht, dass die Männer an Ihrem Stuhl sägen?« Doch ich denke, man kann nie genug Kompetenz im Team haben.

Gab es in der Stadt auch Widerstände gegen Sie?

Ich wurde immer nur geliebt (lacht). Was mich so lange in der Region gehalten hat, war, dass es hier immer eine Politik gab, die sich für Theater und Kultur interessiert hat. Leute, die Kompetenz und Offenheit haben. Das ist nicht selbstverständlich, aber ein Riesenvorteil. Das gilt für Stadt, Land und Landkreis: Es gab keine Farbpalette an Koalitionen, die ich hier nicht hatte. Aber es gab nie eine Mehrheit, die nicht für dieses Theater gestanden hat. Wichtig ist, dass man offen und fair redet. Es gab eine große Vertrauensbasis. Das hat uns auch die Corona-Geschichte erleichtert.

Sie mussten aber lange kämpfen, dass nicht alles auf Ihren Schultern bleibt.

Ich habe mich beim Aufsichtsrat vor dem Wechsel in der Intendanz für die Einführung einer zweiten Geschäftsführung eingesetzt. Es war schon immer komplex, eine Theater-GmbH zu leiten, zwischen aller Kunst, allen Unwägbarkeiten, und dann auch noch Corona. Ich habe gesagt, hier braucht es eine zweite Geschäftsführung.

Sie haben mehrfach Ihren Vertrag verlängert. War das Ihr Wunsch?

Das kam von der Politik. Vor allem bei der letzten Verlängerung war das ein sehr intensives Miteinander mit den künstlerischen Leitern. Aus vielen Gründen haben wir gesagt, wir haben noch Fantasie und Ideen mit diesem Haus. Es war zwar in den letzten beiden Corona-Jahren nicht lustig, aber hat Sinn gemacht, dass nicht ein neues Team in einer solchen Situation anfangen musste. Und so etwas braucht lange Vorbereitung. Wer geht, sollte nach einer tollen Spielzeit gehen können. Daher bin ich so froh, dass wir nun wieder spielen können.

Wie hat sich das Stadttheater in den letzten 20 Jahren verändert?

Es ist digitaler geworden. Die gesamte Maschinerie der Bühnentechnik ist nun ein an einem Steuerpult zusammenwirkendes Gesamtwerk. Umstellung der Beleuchtung auf LED, auch bei Ton und Akustik hat sich viel getan. Als wir mit Musical angefangen haben, brauchten wir eine andere Beschallung. Wir haben das Haus sukzessive renoviert.

Die baulichen Veränderungen in Ihrer Intendanz waren enorm: die taT-Studiobühne, das Zentrum im Katharinenviertel... In der Zeit sind Sie sicher kaum mehr aus dem Theater herausgekommen?

Irgendetwas war immer. Entweder hatten wir eineinhalb Jahre keinen Verwaltungsdirektor oder es wurde gebaut oder es gab Corona. Ich kann nicht behaupten, dass ich wenig da war. Aber das war auch toll. Eine Studiobühne planen dürfen, was für ein Privileg!

Wie war das Verhältnis zwischen Management und Kunst?

Das kann ich sehr gut trennen. Wenn ich auf der Probe bin, ist das weg. Ich bin aber kein Arzt, der am offenen Herzen operiert. Wenn wirklich etwas war, war ich ansprechbar. Doch ich glaube, es wird unterschätzt, wie kreativ der andere Bereich ist. Mit einem Gespür für Zahlen, wirtschaftliche Zusammenhänge, Kommunikation und Vernetzung kann man ein hohes kreatives Potenzial einbringen. Und das macht Freude. In diesem Haus muss jede Rechnung von der geschäftsführenden Intendanz abgezeichnet werden. Dadurch habe ich ein Gefühl für das große Ganze bekommen.

Es bleibt ein Spagat.

Inszenieren ist noch mal etwas anderes. Ich habe bewusst erst in meiner dritten Spielzeit selbst inszeniert, wollte erst Haus und Menschen kennenlernen. Ich sehe aber die Dinge nicht getrennt. Im Theater hängt alles zusammen.

Wollten Sie mal weg? Sie waren als Intendantin für Krefeld im Gespräch, wurden aber nicht gewählt...

Da war ich nicht traurig. Aber es hätte ja sein können, dass hier für mich Schluss gewesen wäre.

Haben Sie ein Gespür entwickelt, was Publikum will und mitmacht? Ich erinnere an das dadaeske Neujahrskonzert mit Quast.

Das ist lange her, wir haben da Fehler gemacht. Es hatte auch mit Kommunikation zu tun. Ich bin oft im Foyer, da gibt es viele Kontakte. Auch bei Nachgesprächen und Einführungen lernt man das Publikum kennen. Letzten Endes weiß man aber nie, ob es funktioniert.

Sie haben eine große Spannweite zu bedienen: von ATW-Studierenden bis zum Operettenliebhaber.

Das ist das Spannende. Es ist ein großes Missverständnis, dass Studierende nur Modernes sehen wollen. Die schauen sich auch Klassiker und Operette an. Und kommen nun wieder zahlreich. Es ist uns gelungen, uns präsent zu halten.

Sie müssen Theater für alle Generationen machen.

Und es kommen auch andere Generationen zum Arbeiten. Früher wollten die Leute weiterkommen, sich einbringen. Heute haben sie Familie, andere Interessen, wollen sich im Lot halten. In meinen ersten Jahren hier kamen ein, zwei Kinder auf die Welt, heute sind das acht, neun, auch von Menschen aus dem künstlerischen Bereich. Die Millenniums-Generation will kein Chef mehr sein. Das hat auch damit zu tun, dass die zweite, dritte Ebene anders wahrgenommen wird, sich einbringen kann. Warum sollen die Verantwortung tragen wollen?!

Gab es mal einen Flop?

Einer der größten Erfolge auf dem Papier war etwas, das wir aus unserer Sicht so was von versenkt haben. Die Oper ist unbekannt, zu Recht, wie wir gemerkt haben. Wir haben sie hochkarätig besetzt, wirkungsvoll gezaubert. Und dann war das bei den fünf besten Opernentdeckungen des Jahres.

Was hätten Sie gerne selbst inszeniert?

Ich habe immer gesagt, wenn ich inszeniere, dann nur hier. Dadurch fehlt mir heute das Netzwerk. Dessen war ich mir bewusst. Wahnsinnig gern würde ich »Don Carlos« inszenieren. Aber das kriegen wir nicht in den Graben. Konzertant geht zwar viel, aber auch da gibt es Grenzen. Ich habe nie begriffen, was es bedeutet, »das Dach hebt ab«. Bei »Turandot« habe ich es verstanden.

Ärgert es Sie, dass Ihre letzten Jahre in Gießen Corona-Spielzeiten waren?

Es war einfach wahnsinnig anstrengend. Ich habe nie so viel gearbeitet, wie in den zweieinhalb Corona-Jahren. Es macht müde, weil am Anfang alles neu erfunden werden musste, die Organisation so unendlich komplex war, man hatte nie einen sicheren Tagesablauf. Die letzten zweieinhalb Jahre waren kein Traumjob. Unter dem Strich bin ich aber nicht unglücklich. Es war sicher für das Haus nicht schlecht, dass ich da war. Ich hätte aber nicht mehr die Kraft, weitere Corona-Jahre dranzuhängen.

Und wie geht es für Sie nun weiter?

Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Ich hatte vor, mir darüber in den letzten zwei Jahren Gedanken zu machen und das vorzubereiten. Aber ich hatte schlicht keine Zeit dafür. Ich weiß, dass ich sicher noch etwas machen will. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr allumfassende Verantwortung haben möchte. Es war hier eine extrem anregende, tolle Zeit. Es ist eine so privilegierte, grandiose Möglichkeit gewesen. Auch wenn ich manchmal einen hohen Preis dafür gezahlt, für vieles den Kopf hingehalten habe. Ich freue mich darauf, mir jetzt Gedanken zu machen, wie es weitergeht. Erst mal muss ich mir eine neue Wohnung suchen.

Werden Sie zurück nach München gehen?

Das war interessanterweise nie meine Stadt, aber ich hatte da spannende Aufgaben und meine Kinder sind da aufgewachsen. Ich werde immer ein Bein in München haben, aber ich war im letzten Sommer wieder viel in Basel, als mein Vater gestorben ist. Und ich habe gemerkt, dass ich mich dort unendlich wohlfühle.

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