Ein Licht nicht nur für die Toten

Die Kraniche ziehen, die Blätter fallen, das Wetter wird trist und auf den Friedhöfen flackern rote oder weiße Lichter in der Dämmerung. Anfang November gedenken katholische Christen ihrer Toten. Zu Allerheiligen und Allerseelen werden die Gräber schön gestaltet und für den Winter vorbereitet. Dabei hat nicht der Tod das letzte Wort, sondern das Leben.
Warum? Ein paar Gedanken dazu am Grab meiner Eltern.
Einen Sack dunkler Erde habe ich dabei, Eimer, Schaufel, Hacke, Handschuhe und eine Rosenschere. Dazu Pflanzen, ein paar Blumen, Kerzen. Und ein bisschen Zeit und mich selbst. So ist das oft, wenn ich meine Mutter und meinen Vater besuche - nicht nur jetzt vor den Gedenktagen Allerheiligen und Allerseelen. Ich bin gerne hier, trotz allem. Das Quietschen des Holztores am Eingang des Kleinlindener Friedhofs würde ich mit geschlossenen Augen erkennen. An der Hand meiner Mutter bin ich schon hindurchgegangen, als ich gerade so laufen konnte. Unser Familienfriedhof. Wir kamen oft zu Besuch. Mein Vater trug das Zubehör und die Gießkanne, trat zu den Gräbern unserer Angehörigen selten ohne einen frischen Strauß, am liebsten Rosen. »Rosen pflanze ich ganz bestimmt«, sagte er einmal ein, zwei Jahre vor seinem Tod, als wir uns über den Himmel unterhielten. Er grinste und ich auch und eine Bronzetafel mit diesem Satz liegt nun auf seinem Grab und wenn ich sie von Laub befreie, freue ich mich jedes Mal und einen Rosenstock habe ich ihm auch gepflanzt, das ist doch klar.
Jetzt kürze ich die Zweige seiner Rose, lasse aber die letzten Knospen stehen. Hat mein Vater im Beet zu Hause auch immer so gemacht. Das Prinzip Hoffnung: Manchmal blüht noch eine in dunkler Winterkälte auf. Und dann freue ich mich und denke: Siehst du, Papa. Ich schneide den Thymian und den Oregano und den Lavendel. Meine Mutter liebte diese Kräuter, und die Schmetterlinge und Bienen tun das auch, im Sommer, und dann duftet alles fast so wie früher im Garten daheim und ich erinnere mich auch daran und das ist schön.
Es gibt Steine aus dem Urlaub auf dem Doppelgrab, einen Vogel von der Fensterbank des Wohnzimmers meiner Eltern und einen Steingutengel, der immer schon da war. Er ist etwas ramponiert, aber sind wir das nicht alle manchmal, so ist eben das Leben. Wer schafft schon dauerhaft Perfektion. Das Unfertige und Halbgute und immer wieder Fastschöne tut auch hier gut. Das ist kein Mustergrab, sondern ein Begegnungsort. Mein Leben trifft auf ihr Leben. Ihr Tod trifft, ja, auf meine Endlichkeit. Während ich auf dem Boden knie, durch die Arbeit auf der Erde geerdet, fühle ich Nähe zu meinen Eltern und zu mir und zu unserer gemeinsamen Geschichte. Da ist mehr Platz für schönes Erinnern als für Traurigkeit. Und wenn ich will, ist Raum für Zwiesprache, was auch immer ich darunter verstehe. Zehn und neun Jahre reden und schweigen wir nun schon so. Meistens erzähle ja ich. Und fühle mich gehört.
Ich mag diesen Friedhof in meinem Leben. Ich brauche dieses Grab nicht, um an meine Eltern zu denken. Denn sie sind nicht nur dort, sondern in meinem Herzen. Und deshalb gehen wir zusammen wieder heim in mein Leben und meinen Alltag, wenn ich fertig bin mit dem Hiersein. Aber ihre Ruhestätte schenkt auch mir Frieden. Hier bin ich - sind wir? - ungestört, an einem besonderen Ort, für eine besondere Zeit. Manchmal denke ich, wenn ich so grabe und gieße und verweile, dass ich das mindestens so sehr für mich tue wie für sie. Ihre Namen sind auf den Stein geschrieben und nicht verloren. Ihr Grablicht leuchtet auch für mich. Oder vielleicht gerade für mich? Manchmal habe ich ein Plunderstückchen dabei und einen Coffee-to-go, wenn ich hier arbeite. »Essen und Trinken hält Leib und Seele« zusammen, hieß es in der Generation meiner Eltern. Und die Seele spielt doch eine Rolle, wenn ich hier bin, so denke ich mir das jedenfalls. Nicht nur zu Allerseelen. Der Tod gehört zu unserem Leben. Aber das Leben gehört ihm nicht. Im Gegenteil. Ich vermisse meinen Vater, und ich vermisse meine Mutter. Aber sie sind nicht verschwunden. Nicht wahr: »Es ist, was es ist, sagt die Liebe.«