Ein Faible für das Landkärtchen

Das Landkärtchen ist zum Insekt des Jahres 2023 gekürt worden. Die Ehrung ist auch im Gießener Fraunhofer-Institut mit Freude aufgenommen worden. Insektenforscher Prof. Andreas Vilcinskas ist schon seit der Kindheit ein Fan des Falters und hat auch dazu geforscht.
Schmetterlinge haben die Menschen schon seit jeher fasziniert. Die Verwandlung von der unansehnlichen Raupe zum farbenfrohen Falter gilt als Analogie für unzählige Geschichten, die Raupe Nimmersatt lässt grüßen. Das Araschnia levana, besser als »Landkärtchen« bekannt, hat aber noch mehr zu bieten als diese Metamorphose, betont der Gießener Insektenforscher Prof. Andreas Vilcinskas. Der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie (IME), Projektgruppe »Bioressourcen«, freut sich aber auch ganz persönlich über die Auszeichnung des Landkärtchens zum Insekt des Jahres 2023.
Seit 1999 wird in Deutschland das Insekt des Jahres gekürt. Verantwortlich dafür ist ein gleichnamiges Kuratorium, das der Zoologe Holger Heinrich Dathe einst ins Leben gerufen hat. Mit der Auszeichnung sollen Informationen über ökologisch außerordentlich bedeutungsvolle, aber oft unterschätzte Tiergruppen verbreitet werden. Gleichzeitig erhofft sich das Kuratorium mehr Akzeptanz in der Bevölkerung und den Abbau unbegründeter Vorurteile. Nach der Schwarzhalsigen Kamelhalsfliege, der Dänischen Eintagsfliege, dem Schwarzblauen Ölkäfer sowie der Roten Mauerbiene wird nun einem Schmetterling diese Ehre zuteil.
Bei Vilcinskas dürfte der Abbau von Vorurteilen gegenüber Insekten nicht notwendig sein. Schließlich hat er das Institut für Insektenbiotechnologie an der Justus-Liebig-Universität gegründet, außerdem hat ihm die Forschung »seines« Fraunhofer-Instituts über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Fliegen, Käfern und Co. überregional Beachtung eingebracht.
Das Landkärtchen, im Grunde aber Falter im Allgemeinen, haben einen entscheidenden Einfluss auf diesen Karriereweg gehabt, wie Prof. Vilcinskas betont. »Schmetterlinge haben mich schon in der Kindheit fasziniert. Als 12-Jähriger bin ich mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren, habe Falter gesammelt und ein Fangtagebuch geführt.« Zum Beweis verschwindet der Biologe kurz im Nebenraum und tauscht wenig später mit einem Schaukasten auf, der etliche von ihm gesammelte Falter beherbergt. »Alle in der Kindheit gefangen«, sagt er.
Auch das Landkärtchen ist hinter dem Glas zu sehen, und das in zweifacher Ausführung. Denn das ist das besondere an dem Insekt des Jahres: »Diese Art tritt in zwei so unterschiedlichen Farbvarianten auf, dass diese ursprünglich für zwei verschiedene Arten gehalten wurden«, sagt Vilcinskas. Das habe nichts mit dem Geschlecht zu tun, sondern mit dem Zeitpunkt der Verpuppung. »Im Frühjahr sind die Falter orange-braun gefärbt, während die im Sommer fliegenden Schmetterlinge dunkelbraun sind und weiße Binden tragen.« Die im Mai und Juni heranwachsenden Raupen entwickelten sich nach der Verpuppung rasch zu Faltern, die in den Monaten Juli bis August schlüpfen. Aus den Eiern dieser Sommergeneration entstünden Raupen, die im August und September in das Puppenstadium übergehen, indem sie überwintern und aus dem die Falter im kommenden Frühjahr schlüpfen. »Die Wissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als Saisonpolyphänismus«, erklärt Vilcinskas.
Welche der beiden Farbvarianten aus den Puppen schlüpfe, hänge also davon ab, welcher Tageslänge und welcher Temperatur die Raupen im letzten Larvenstadium ausgesetzt sind. »Wie solche Umweltfaktoren dazu führen können, dass aus dem gleichen Genom zwei unterschiedlich gefärbte Faltergenerationen resultieren können, ist für die Wissenschaft seit Jahrzehnten ein großes Rätsel«, sagt der Biologe.
Vilcinskas Faible für das Landkärtchen hat dazu geführt, dass er bereits mehrere Studien zu diesem Thema veröffentlicht hat. Sie liefern Einblicke in die genetischen Grundlagen für die Ausbildung der Farbvarianten. Zudem hat er entdeckt, dass sich nicht nur das Farbkleid der Falter ändert, sondern auch ihre Immunabwehr.
Erkenntnisse über Klimawandel
Puppen, die überwintern, seien mit einer besseren Immunabwehr ausgestattet als jene, aus denen nach kurzer Zeit die Falter der Sommergeneration schlüpfen. »Das ergibt Sinn«, sagt Vilcinskas, der mit seinem Team auch herausgefunden hat, dass epigenetische Mechanismen eine Rolle dabei spielen, wenn Umweltfaktoren wie die Tageslänge die Raupen genetisch umprogrammieren.
Das könne in Zukunft hilfreiche Einblicke zu den Auswirkungen des Klimawandels auf das Insektensterben liefern, sagt Prof. Vilcinskas. Denn auch das Landkärtchen gehöre zu den Arten, deren Bestände sich in Deutschland rückläufig entwickelten.
