Ein dokumentarisches Journal aus Minsk

Gießen Das rege Interesse des Publikums bei einer Veranstaltung des Literarischen Zentrums war vor allem der Aktualität des Themas zu verdanken: Der belarussische Schriftsteller, Künstler und Herausgeber Artur Klinau diskutierte mit Osteuropahistoriker Prof. Thomas Bohn über die Entwicklung und politische Lage seines Heimatlandes.
Dissident auf Lebenszeit
Moderiert und übersetzt von Gleb Kazakov erhielt die Veranstaltung eine autobiographische Note durch Ausschnitte aus zwei Büchern, in denen sich Klinau mit seiner Heimatstadt auseinandersetzt. Äußerst kritisch gegenüber dem belarussischen Regime eingestellt war der zurzeit in Gießen im Exil lebende Autor bereits, als 2006, unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl, »Minsk. Sonnenstadt der Träume« erschien. Klinau erzählt darin, wie er erläuterte, die Geschichte des Landes durch die Geschichte der Metropole. Der Protest vornehmlich junger Menschen gegen das Wahlergebnis - Alexander Lukaschenko wurde offiziell mit 82,6 Prozent im Amt bestätigt - sei nach ein paar Tagen niedergeschlagen worden. In den vom Schauspieler Roman Kurtz gelesenen Passagen reflektiert Klinau Kindheitserinnerungen. Die »Sonnenstadt« sei eine »magische Fassade«, führte er im Gespräch mit dem Moderator aus, hinter der sich eine weitere, viel größere Fassade verberge. Damit verbundenes Ziel sei, die Bevölkerung in einen »lethargischen Traum« zu versetzen, sie glauben zu machen, »in der besten Gesellschaft der Welt« zu leben. Bohn beschrieb, wie sowjetische Planer in den 1950er und 60er Jahren eine Kunststadt verwirklichten, die aus allen Nähten platzte. Darüber sei der Mythos einer Heldenstadt gelegt worden. In den letzten Jahren habe sich der Charakter Minsks indes verändert, unter anderem sei ein »postmoderner Boulevard« entstanden: Bistros, Cafés und riesige Einkaufszentren.
Klinau beleuchtet in »Sonnenstadt der Träume« rückblickend-distanziert die sowjetische Fassade. »Sobald man einen Schritt zur Seite trat, kam man in eine andere Realität«, bemerkt er zur tristen Schattenseite. Für ihn ist Minsk »ein Schaufenster für die Errungenschaften der sowjetischen Industrie und Gesellschaft« gewesen. Wäre das Land ärmer, so wäre es der Bevölkerung womöglich leichter gefallen, von der Vergangenheit Abschied zu nehmen.
Voller Ironie steckte im zweiten Buch »Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk« über die Proteste von 2020 die Auseinandersetzung mit dem Präsidenten Lukaschenko, einem »kleinen Halbgott«. Der kritische Künstler Klinau wurde »zum Dissidenten auf Lebenszeit« und floh. Für ihn hätte der Präsident die Chance zu einem guten Abgang gehabt, doch redete dieser die Pandemie klein. Das Regime fälschte Statistiken und belog das Volk; darin zeige sich, dass in der »lupenreinen Autokratie« Menschenleben nichts zählten.
In der Diskussionsrunde betonte Klinau, dass heute nur noch ein Drittel der Bevölkerung dem sowjetischen Denken verhaftet und zwei Drittel anders geprägt seien. Der Kreml hätte bei einer erfolgreichen Revolution seiner Einschätzung nach das Land besetzt, das wäre der Preis dafür gewesen. Sascha Jouini