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Eigentlich nicht wegzudenken

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Von: Burkhard Möller

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Seit heute ein 70er: Gerhard Merz von der SPD. © Red

Gießen. Gerhard Merz ist in seinem bisherigen Leben in vielerlei Hinsicht aufgefallen. Sportliche Leistungen gehörten bislang nicht dazu. Dabei wirkt der SPD-Stadtverordnete fit wie ein Turnschuh, als er am vergangenen Montagabend in der Sonne vor Beginn einer Gremiensitzung gut gelaunt vorm Rathaus steht. Da war er noch 69, seit heute ist er 70.

Merz ist eine der prägenden Gestalten, die noch übrig geblieben sind aus der ersten Ära rot-grüner Koalitionen in den beiden Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende. In ein politisches Hauptamt kam Merz, der bis dahin als Vordenker der Gießener SPD, Spitzname »Gripsi«, eine wichtige Rolle im Stadtverband spielte, erst nach der Kommunalwahl 1997. Seine Tätigkeit als Sozial- und Schuldezernent übte er aber nur vier Jahre aus, weil es SPD und Grüne mit ihren internen Konflikten derart übertrieben, dass sie von den Gießenern 2001 in die Opposition geschickt wurden. Noch heute schüttelt Merz den Kopf über die Selbstzerfleischung auf offener Bühne, an der er sich nie beteiligte. Verhindern konnte er sie aber auch nicht.

Schmerzlicher als die Abwahl war für Merz, dass sein Kampf für den Erhalt der Förderstufen an den drei Gießener Gymnasien nicht von Erfolg gekrönt war. Für Merz standen sie für den Versuch, Schulkarrieren nicht vom sozialen Status der Eltern abhängig zu machen. Das sozialdemokratische Urthema Bildungsgerechtigkeit hat ihn sein Leben lang begleitet.

Der überzeugte Linke stammt aus dem Odenwald. Seine Eltern waren Bauern. Merz studierte in Gießen Englisch und Sozialkunde fürs Lehramt. Prägend für seine politische Ausrichtung war Mitte der 1970er Jahre ein 15-monatiger USA-Aufenthalt, den er unter anderem zur Mitarbeit in der Landarbeitergewerkschaft nutzte.

1986 wurde er Leiter des Jugendbildungswerks in Wetzlar. Seit April 1990 bis zu seiner Abwahl stand Merz im Sold der Stadt Gießen. Dem Verlust des Hauptamts folgte 2001 zwar die Wahl an die Spitze des SPD-Stadtverbands, aber zugleich begann für den »Eintracht«-Anhänger eine lange Durststrecke. In die fällt auch die knappe Niederlage bei der Oberbürgermeisterwahl 2003. Eine berufspolitische Perspektive schien nicht in Sicht zu sein, aber Merz bewahrte die Ruhe; auch 2006, als die Grünen mit CDU und FDP in Gießen eine Koalition eingingen. Zwei Jahre später war Merz wieder da - und feierte einen großen Sieg bei der Landtagswahl, den die Genossen dann durch Ypsilantis Wortbruch wieder verspielten. Bei der vorgezogenen Hessen-Wahl ein Jahr später wurden die Sozialdemokraten abgestraft. Der Gießener indes wurde von dem Erdrutsch nicht mitgerissen und behauptete sein Direktmandat nicht nur 2009, sondern auch 2013. Die späte Krönung, als Sozialminister in ein Kabinett Schäfer-Gümbel einzuziehen, blieb dem zweifachen Vater nach der Wahl 2018 verwehrt.

Mit dem Ende seiner Landtagszeit endete auch die Karriere als Sammler und Vorleser von Politiker-Stilblüten, die er in zwei Büchern als »Papyrrhussiege« feierte. Seine Leser und Zuhörer haben selten so gelacht. Vor der letzten Landtagswahl beschrieb Merz seine Alternativen: »Hund oder Minister.« Es wurde der Hund. Wer Merz bei Facebook folgt, kennt Pablo als tierischen Sinnstifter mit Kultstatus. Da Merz seine Aktivitäten in dem sozialen Netzwerk vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs weitgehend eingestellt hat, hat man von Pablo leider länger nichts mehr gehört.

Stadtverband und Fraktion führte Merz 15 bzw. sieben Jahre - und feierte Erfolge: 2009 den Sieg seiner Weggefährtin Dietlind Grabe-Bolz bei der OB-Wahl und 2011 den Wiedergewinn der Poleposition für die SPD im Stadtparlament. Vor der Wahl 2021 sprach einiges dafür, dass auch kommunalpolitisch Schluss ist, aber die Wähler sahen es ähnlich wie viele seiner Kollegen im Stadtparlament: Eigentlich ist Gerhard Merz nicht wegzudenken. So wurde er von Listenplatz 30 in die Fraktion kumuliert.

Nicht nur für seine Fraktion, sondern fürs Stadtparlament insgesamt ist die Anwesenheit dieses überzeugten und überzeugenden Demokraten, der wie kein Zweiter menschenverachtende Ideologien bloßstellen kann, ein Glücksfall. Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit, Fachwissen und ein überragendes historisches Bewusstsein haben Merz auch für seine Ehrenämter an der Spitze des Kinderschutzbunds und der Lagergemeinschaft Auschwitz prädestiniert.

Klingt nach Elder Statesman, aber für den ist Merz zu oft unleidlich. Ein Lied davon singen kann Lutz Hiestermann, Fraktionschef von Gigg/Volt. Der beklagte sich mal über die Papierflut, mit der ehrenamtliche Stadtverordnete, die tagsüber arbeiten müssten, konfrontiert würden. »Rentner« wie Gerhard Merz seien da im Vorteil. Da hat ihn der Rentner plattgemacht. BURKHARD MÖLLER

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