Durch die Epochen schnüren

Andreas Schüller ist neuer Generalmusikdirektor am Stadttheater. Der 48-jährige Berliner steckt voller Tatendrang und Inspiration. Zwei Funken, die sogleich überspringen sollten.
Er ist ein geradliniger Typ. Ein hellwacher Denker, der ernst nehmen und ernst genommen werden will. Einer mit Biss. Im Gespräch artikuliert er sich karg oder ausführlich - je nachdem wie sinnig ihm die Frage erscheint.
Beispiel: Worin besteht die Kunst, ein Orchester zu führen? »Im Zuhören.« Und wie erklärt man einem Neunjährigen den Unterschied zwischen Klassik, Romantik und Moderne? »In der Klassik hat man fast immer für Herrscher oder in der Kirche gespielt, in der Romantik war die Musik für alle Menschen gedacht, in der Moderne ist sie es manchmal nur noch für Spezialisten.«
Als neuer Generalmusikdirektor des Stadttheaters fühlt sich Andreas Schüller nicht nur als ein Reisender in Sachen Musik, der durch die Epochen schnürt. Er ist auch ein Reisender im Hier und Jetzt, lebt in Wien, verehrt Österreich und arbeitet nun vorwiegend in Gießen. Das sollte für ihn nicht zum Problem werden. Sein Privatleben stellt er hintan.
Daniel Barenboim ein Vorbild
Keineswegs in einer Künstlerfamilie aufgewachsen, hat Schüller sich mit Begabung und Fleiß alles selbst erarbeitet. In Berlin geboren, studierte er in seiner Heimatstadt Horn, Klavier und Dirigieren. Längst ist er im klassischen Repertoire, aber auch in der zeitgenössischen Musik zu Hause und stets konzentriert bei der Sache. Hellwach noch nach einem langen Arbeitstag. »Auf Augenhöhe« könnte sein Motto lauten.
Als Vorbild erwähnt er Daniel Barenboim, wenn es um die Oper geht. Den verstorbenen Oscar Peterson nennt er in puncto Tastentalent. »Ich würde gern so gut Klavier spielen können wie er.« Ansonsten hält es Schüller für ratsam, Menschen zu kennen, »die viel begabter sind als man selbst«.
Aber auch die Bodenhaftung erscheint ihm wichtig. »Sich mit Kunst beschäftigen zu dürfen, ist eine Ehre und Bürde gleichermaßen.« Dass er die dafür erforderlichen Fertigkeiten aus dem Effeff beherrscht, hat der 48-Jährige in seiner Karriere mehrfach bewiesen.
Schüller arbeitete als Chordirektor der Salzburger Festspiele, Kapellmeister am Staatstheater Wiesbaden, 1. Kapellmeister an der Oper Leipzig und Chefdirigent der Staatsoperette Dresden. »Wenn man die Zeit addiert«, sagt er, »war ich 25 Jahre im Musiktheater aktiv. In Gießen eröffnet sich für mich nun die Chance, mir im Konzertbereich einige lang gehegte Wünsche zu erfüllen.«
Ob ihm das Freiheiten verschaffen wird? »Oh nein, Dirigieren bedeutet nur selten Freiheit.« Zu passgenau und aufeinander abgestimmt muss alles funktionieren, damit der Kunstgenuss fürs Publikum ein Großer ist. Und ein abwechslungsreicher. »Ich möchte gern Neues mit Etabliertem verbinden.«
Das gilt für die kommenden Sinfonien mit Werken vom Barock bis zur Moderne, aber auch für die Opern. Benjamin Brittens »Sommernachtstraum« steht ebenso auf dem Spielplan wie Puccinis »Tosca«. Schüllers erste Premiere im Großen Haus wird die »Gefährliche Operette« (ab 10. Oktober) von Gordon Kampe sein, eine revueartiges Unikum des Genres mit Texten etwa von Schorsch Kamerun und Wiglaf Droste. Zudem plant der Dirigent am Vorabend der Sinfoniekonzerte anderthalbstündige Previews. Er will darin die zu spielenden Werke in Auszügen vorstellen und erläutern, um damit auch Menschen anzusprechen, die sich sonst nicht ins Theater trauen.
Lenker mit guter Laune
Mit seinem Gießener Orchester gehen die Proben gut voran. »Ich spüre großen Ehrgeiz und Neugier.« Das erste Konzert steigt noch ohne Preview-Abend am Mittwoch, 7. September, um 19.30 Uhr (ab sofort stets um diese Uhrzeit) in der Kongresshalle und nicht wie gewohnt im Großen Haus, weil dort bereits die Umbauten für die erste Produktion der Saison laufen (»Posthuman Story«, Uraufführung am 30. September).
Am Pult will der Generalmusikdirektor ein »Lenker mit Laune« sein, mit guter Laune. »Es geht um Verantwortung, nicht um Macht«, betont er die flache Hierarchie und lobt die Zusammenarbeit mit der neuen Intendantin Simone Sterr sowie der ebenfalls neuen Operndirektorin Ann-Christine Mecke.
Nach den Zwangspausen aufgrund der Pandemie möchte Schüller im Orchester das Qualitätsgefühl der Musiker stärken, Potenziale wecken, das Klangbild formen. Ernste Musik sollte dabei nicht leicht klingen. »Ganz im Gegenteil. Und das Leichte sollte immer ernst genommen werden.«
Ob ihm das Platzproblem im Graben Sorgen bereitet? Er überlegt, schüttelt den Kopf. »Das wird schon«, sagt er entspannt. Und wie entspannt er wirklich? Mit einem guten Buch. »Die Dämonen« des Österreichers Heimito von Doderer gehören zu seinen Favoriten, ebenso Uwe Johnsons »Jahrestage«.
Und nach der Arbeit? »Da koche ich gern und höre Radio.« Womöglich dampft dann auf dem Herd ein walzerseliges Gericht aus Österreich. Was Schüller dazu wohl trinkt? »Einen Grünen Veltliner, wenn es ein Weißwein sein soll, einen Zweigelt bei den Roten«, lächelt der Maestro verschmitzt über seine Favoriten aus der Alpenrepublik.