Du siehst mich
Sehen und gesehen werden. Das ist für unser Mensch-Sein elementar. Jeder Mensch wünscht sich, gesehen und beachtet zu werden von anderen. Das fängt schon bei kleinen Babys an, die schreien, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommen.
Aber es gibt auch Menschen, die übersehen werden. »Die im Dunkeln sieht man nicht«, dichtete Bertolt Brecht. Zum Beispiel Menschen, die obdachlos sind. Menschen am Rand unserer Gesellschaft. Oder die Menschen im Gefängnis, mit denen ich arbeite, die von der Gesellschaft abgeschottet sind.
Zur Jahreslosung, dem Motto der Kirchen für das Jahr 2023, gehört eine Geschichte aus dem ersten Buch der Bibel. Da geht es um eine Dreiecksbeziehung. Abraham war verheiratet mit Sara. Seit langem wünschten sie sich ein Kind, und Gott hatte es ihnen auch versprochen. Aber als sie immer älter wurden, begannen sie an diesem Versprechen zu zweifeln.
Deshalb versuchten sie, ihrem Kinderwunsch nachzuhelfen. Sara schlug Abraham vor, er solle mit ihrer Magd Hagar schlafen. Da Sklaven als Besitz ihres Herren galten, war das damals moralisch völlig unanstößig. Und Hagar wird tatsächlich schwanger. Man kann sich vorstellen, wie das ihr Selbstwertgefühl gesteigert hat.
Sara fühlte sich dadurch zurückgesetzt. Aber als Herrin war sie natürlich die Stärkere, und so flieht Hagar in die Wüste. Ohne Schutz und Unterstützung droht ihr und dem Kind in ihrem Bauch dort der Tod. Aber ihr begegnet ein Engel, der ihr viele Nachkommen verspricht. Und der sie ermutigt, zu Abraham und Sara zurückzukehren.
»Du bist ein Gott, der mich sieht« (1. Mose 16,13), nennt Hagar diesen Engel, dem sie begegnet ist. Sie fühlte sich dadurch in ihrer Bedrückung verstanden. Und das hat ihr dann die Kraft gegeben, wieder zu ihrer Herrin zurückzu- gehen.
Du bist ein Gott, der mich sieht. Mögen besonders Menschen im Dunkeln in diesem neuen Jahr 2023 diese Erfahrung machen.
Pfr. Johannes Blum-Seebach ist Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Gießen