Droht den Kirchen die Kältestarre?

Gießen (pm). Die Energiekrise bedeutet auch für die Kirchen in den kommenden Monaten Ausnahmezustand. Der Energieverbrauch in Kirchengemeinden und Verwaltungseinrichtungen wird stark gedrosselt, Büros und Gruppenräume in Gemeindehäusern werden nur noch auf höchstens 19 Grad erwärmt, Vorräume und Treppenhäuser werden gar nicht beheizt und die Außenbeleuchtung abgestellt.
In den kirchlichen Kindertagesstätten darf das Thermometer nicht über 20 Grad steigen, lediglich Wickelräume dürfen 24 Grad haben. Damit folgen die Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen der staatlichen »Energieeinsparverordnung«, die für kirchliche Gebäude Maßnahmen vorgibt.
Droht den Kirchen nach der zweijährigen Corona-Zwangspause nun über Weihnachten die Kältestarre, ein neuer Einbruch beim Gottesdienstbesuch und die Aussetzung von Gemeindeveranstaltungen? Der evangelische Dekan André Witte-Karp weiß, dass sich die Leitungen aller Kirchengemeinden in und um Gießen »mit den Informationen, Empfehlungen und Lösungsvorschlägen auseinandergesetzt und konkrete Maßnahmen ergriffen haben«. Einige benachbarte Kirchengemeinden werden gemeinsame Gottesdienste als sogenannte »Winterkirche« feiern, sodass nur in einer Kirche geheizt werden muss. Zwischen den Gemeinden im Osten Gießens, in Andreas, Luther und Wichern, aber auch in Gießen-Mitte, in Petrus, Lukas, Pankratius, sowie in der Gesamtkirchengemeinde Nord mit den Predigtstätten in Thomas, Paulus und auch in Wieseck ist das vorgesehen. Nachgedacht wird auch darüber, von Januar bis März im Gemeindesaal zu feiern.
Notfallpläne bei der Raumbelegung sollen zudem dafür sorgen, dass Gruppentreffen auf einen oder zwei kleinere Räume konzentriert werden und die restlichen Räume kalt bleiben.
Höchstens 15 Grad
Die Gesamtkirchengemeinde Gießen Nord hat ein präzises Energiekonzept erstellt, das sogar beinhaltet, Decken anzuschaffen, berichtet Pfarrerin Iris Hartings. Decken werden auch in der Kirche in Kleinlinden vorgehalten, sagt Pfarrer Ekkehard Landig, denn die Kirche wird bis Silvester auf höchstens 15 Grad erwärmt. Danach wird im Gemeindehaus Gottesdienst gefeiert. Die Stephanusgemeinde in der Weststadt hat laut Pfarrer Adrian Schleifenbaum ihr Jugendhaus geschlossen und dort bereits Heizung und Strom abgestellt.
Alle Gemeinden in und Gießen berichten von der Erarbeitung von Energiekonzepten, die die Anschaffung von Thermometern zur Kontrolle oder die Installation moderner Thermostate und besonders sparsamer Leuchtmittel oder den Austausch von Bewegungsmeldern für die automatische Beleuchtung vorsehen.
»Die Gemeinden sind sich ihrer Verantwortung bewusst«, unterstreicht Witte-Karp. Zugleich erfährt er in Gesprächen mit den Verantwortlichen aber auch, in welchem Zwiespalt sie stecken. »Selbstverständlich fühlen sich alle mit der Ukraine solidarisch und sind bereit, angesichts des russischen Kriegs gegen das Land, ihren Beitrag zur Energieversorgungssicherheit über das bisherige Maß an Umweltverantwortung hinaus zu leisten.« Abgesehen davon ist für Kirchengemeinden noch nicht kalkulierbar, wie stark die Heizkosten steigen werden und ob dafür Angebote möglicherweise eingeschränkt werden müssen.
Doch das kirchliche Leben und die Gemeinschaft in Gottesdiensten und Veranstaltungen werden von ihrem einladenden Charakter geprägt. Pfarrer und Pfarrerinnen sorgen sich darum, weiß Witte-Karp, dass insbesondere Ältere, aber auch junge Menschen wie schon im Corona-Winter 20/21 nicht mehr kommen. »Dass es in alten und großen Kirchengebäuden schon immer etwas kühler war, weiß jeder. Und doch braucht die gemeinschaftliche Atmosphäre gerade in dieser krisenhaften Zeit im wahrsten Sinne des Wortes Wärme.«
»Warme Orte« anbieten
Deswegen freut sich der Dekan über die Initiativen der Jungen Kirche Gießen und der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG). Stadtjugendpfarrer Alexander Klein und die ESG-Pfarrerin Jutta Becher wollen angesichts kalter Räume in der Uni und den WGs und Wohnungen bewusst »warme Orte« anbieten. In der ESG finden Studierende im Wintersemester 2022/23 zum individuellen Arbeiten und Lernen einen warmen Ort vor. Jeden Freitag, wenn die Uni Gießen die Heizung runterdreht, sind in der ESG die Räume von 8 bis 18 Uhr geöffnet und warm. Kostenfreies WLAN steht zur Verfügung. »Tee und Kaffee sind vorbereitet, es gibt 25 Arbeitsplätze und eine Anmeldung ist nicht notwendig«, sagt Pfarrerin Becher. Von Montag bis Donnerstag können ebenfalls zwei geheizte Lernräume mit insgesamt sieben Arbeitsplätzen genutzt werden. Dafür bittet sie um eine kurze Anmeldung unter Tel. 0170 4537515. Die ESG Gießen befindet sich in der Henselstraße 7 in Gießen.
Die Junge Kirche Gießen in der Löberstraße soll als »exemplarischer Ort« für junge Menschen einladend bleiben und nicht kalt werden. Alexander Klein spricht von einem »Hoffnungsort«, denn junge Menschen haben während der Corona-Zeit besondere Einschränkungen an Schulen und Unis und biographische Verluste erlebt, weil sie sich nicht mit anderen treffen konnten. Klein und Becher weisen aber darauf hin, dass sie alle technisch möglichen Veränderungen vornehmen, um Heizkosten zu sparen und ihr Energiemanagement optimieren. Und nicht zuletzt werde die Besucher:innen für das Energie sparen sensibilisiert.
Dass auch älteren Menschen in den kirchlichen Einrichtungen nicht so einfach die Wärme entzogen werden kann, wird am Beispiel der Evangelischen Tagesstätte für ältere Behinderte in der Südanlage deutlich. Die Leiterin, Kornelia Marschner, betont, dass sie die Raumtemperatur nicht reduzieren wird. Sie betreut Senioren, die anderswo als »Menschen in Pflegeeinrichtungen« geführt werden. »Ich könnte meine Senioren niemals 8 Stunden bei 19 Grad in unserer Einrichtung setzen, ohne sie gesundheitlich zu gefährden«, sagt Marschner.