Crack-Welle schwappt nach Gießen: Droge macht aggressiv

Crack mischt im Eiltempo die Drogenszene in Gießen auf. Sozialarbeiter melden eine zunehmende Aggressivität – und vermuten einen Zusammenhang mit Corona.
Gießen – Den kleinen gelb-weißen Stein gibt es für sieben Euro. Und ein Stückchen davon abgebrochen, in einer Pfeife geraucht, verschafft innerhalb von acht Sekunden den »Kick«. Nach rund neun Minuten ist dann alles schon wieder vorbei. Doch für die Abhängigen beginnt nun die »Gier«, wie der Leiter des Suchthilfezentrums in der Schanzenstraße, Bernd Hündersen, sagt.
Der Suchtexperte bestätigt, was Sozialarbeiter der »Brücke« vor Kurzem berichtet haben: Crack hat sich in den vergangenen Monaten immer mehr in der Gießener Drogen-Szene ausgebreitet. Für die Abhängigen und für ihr Umfeld verursacht das große Probleme. Denn im Gegensatz zu anderen Drogen sei ein »soziales und berufliches Funktionieren« bei Crack-Abhängigen ausgeschlossen.
Drogenszene in Gießen: Crack fördert die Aggressivität
»Crack ist erst einmal ein Aufputschmittel«, sagt Hündersen. Die Konsumenten fühlen sich dadurch »lebendig, angstfrei und unternehmungslustig.« Das Besondere sei jedoch, dass die Wirkung nur eine vergleichsweise sehr kurze Zeit anhalte. »Das macht die Leute kopfgeil«, und sie wollen direkt wieder nachkonsumieren. Die Droge entwickele so in kürzester Zeit ein extrem hohes Suchtpotential. Konsum und Beschaffung werden zum Lebensmittelpunkt der Abhängigen und dazu kommt: die Aggressivität.
»Mein Team von sehr erfahrenen Streetworkerinnen und Streetworkern bekam von vertrauten Menschen unter der Brücke signalisiert, dass sie besser nicht mehr alleine dort hingehen sollen, weil sich die Stimmung sehr verändert habe«, sagt Andreas Schmidt, der Leiter der Wohnungslosenhilfe »Die Brücke«. Mitte des Monats wurde dort ein bis dahin beliebter Treffpunkt der Drogenszene geschlossen. Die Sozialarbeiter hätten immer öfter von zunehmenden Konflikten berichtet, »und dabei ging es häufig um Crack.« Früher, also bevor sich die Droge in Gießen ausgebreitet hatte, seien sich die Drogenkonsumenten eher friedlich begegnet, sagt Schmidt. Das habe sich nun offensichtlich geändert.
Polizei in Gießen meldet Anstieg der Drogendelikte: Nachholeffekt durch Corona?
Hündersen erklärt diese gesteigerte Aggressivität unter den Crack-Abhängigen nicht nur mit dem Beschaffungsstress, sondern auch mit der aufputschenden Wirkung der Droge: Wenn die nachlasse, rutschen die Abhängigen in eine post-konsumtive Depression, die sich unter anderem in Reizbarkeit und Ärger ausdrückt. Wenn die Abhängigen dann wieder Crack nachkonsumieren, werden diese Gefühle durch die Droge noch verstärkt. »Das Aufwallen von Zorn ist deswegen einfach typisch für Crack.«
Auch die Polizei stellt fest, dass die Drogenkonsumenten in Gießen immer aggressiver werden. Ob das mit der Droge Crack im Zusammenhang stehe, sei für die Beamten jedoch nicht belegbar, so Polizeisprecher Jörg Reinemer. Die Polizei habe jedoch nicht nur eine Zunahme beim Crack-Konsum festgestellt, sondern »im Gesamten einen Anstieg der Drogendelikte in Zusammenhang mit Kokain.« Kokain ist dabei der Ausgangsstoff, aus dem Crack hergestellt wird.
Suchtexperte Hündersen hat auch eine Vermutung, warum gerade Kokain und Crack öfter konsumiert werden: Nach der Corona-Pandemie gebe es bei vielen ein Gefühl »etwas nachholen zu müssen«. Das könne das Interesse an den beiden Substanzen, die »extrem aufputschen«, gesteigert haben. Crack habe dabei im Gegensatz zu Kokain den Vorteil, dass es weitaus erschwinglicher als Kokain sei. Außerdem sei an Crack für die Konsumenten attraktiver, dass die Wirkung noch mal schneller anflute als bei Kokain.
Crack in Gießen: Drogenexperte geht von langer Konjunktur aus
Wie groß die Crack-Szene in Gießen im Moment ist, darüber kann weder die Polizei, noch das Suchthilfezentrum oder »Die Brücke« Genaueres sagen. Andreas Schmidt erklärt jedoch, dass es mehrere »Cluster von Gruppen« in der Stadt gebe und bis zur Schließung des Treffpunkts unter der Sachsenhäuser Brücke, dort eine hohe Fluktuation geherrscht habe.
Die Hoffnung, dass Crack genauso schnell wieder aus Gießen verschwindet, wie es gekommen ist, hat Suchtexperte Hündersen indes nicht. Die Erfahrung würde vielmehr lehren: »Wenn eine Substanz in einer Region neu ist, dann wird sie dort eine lange Zeit Konjunktur haben.« (Sebastian Schmidt)