Doch kein Politikverbot für Frauen?

Gießen (jou). Seit 1911 wird der Internationale Frauentag begangen. Die Zusammenkünfte hatten ursprünglich die Erlangung des Frauenwahlrechts und vollen Staatsbürgerschaftsrechts zum Ziel. Bei einem hörenswerten Vortrag im Netanya-Saal nahm der ehemalige Stadtarchivar Dr. Ludwig Brake dieses Datum zum Anlass, über die gesellschaftliche wie politische Stellung von Frauen in Gießen im 19.
Jahrhundert zu referieren.
Zwar hätten sich die meisten Elemente der Gleichberechtigung erst im 20. Jahrhundert - teils erst in der zweiten Hälfte - entwickelt, betonte der Referent. Die sozialen Verhältnisse hätten es, wie sich herausstellte, indes nötig gemacht, die Beteiligung von Frauen bereits im 19. Jahrhundert zuzulassen.
Stellenanzeigen als Belege zitiert
Brake widerlegte den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebende Aussagen. So seien Frauen im Großherzogtum Hessen nur in Teilbereichen von ihren Männern abhängig gewesen. In wirtschaftlicher Tätigkeit seien sie geschäfts- und prozessfähig gewesen. Als frühesten Beleg für die gewerbliche Tätigkeit einer Frau fand Brake eine Zeitungsanzeige vom 16. Oktober 1813. Bis Mitte des Jahrhunderts und darüber hinaus entstanden, trotz erheblicher Benachteiligung, vielfältige Beschäftigungsverhältnisse - von der Modewarenhändlerin bis zur Hebamme. Auch im Bildungswesen seien Frauen aufgetreten. Verwitwete hätten sich zur Sicherung ihrer Existenz zuweilen gezwungen gesehen, einer Arbeit nachzugehen.
Aus späterer Zeit fanden sich auch Stellenanzeigen für anspruchsvollere Aufgaben, die sprachliches oder handwerkliches Geschick erforderten. Ein genauer dokumentiertes Beispiel ist Rosa Rothenburg aus Frohnhausen. Sie reiste im In- und Ausland, um Unterricht im Kleidermachen zu erteilen. Nur von Ferne betrachtet, folgerte Brake, seien Frauen ökonomisch unselbstständig gewesen; bei näherem Hinsehen treffe dies so nicht zu.
Ihre gesellschaftliche Aktivität manifestierte sich auch in anderen Bereichen. Nach einer Verbotszeit wurde 1862 die Vereins- und Versammlungsfreiheit eingeführt. Ein Verein, der damals die reguläre Mitgliedschaft von Frauen ermöglichte, sei der aus dem Konzertverein entwickelte Akademische Gesangverein. Noch früher, vor 1815, gab es im Napoleonischen Krieg einen karitativen Verein, der Verwundeten half und Witwen wie Waisen versorgte.
Weitere Unterlagen dringend gesucht
Im Zuge der allgemeinen Politisierung entstanden, so Brake, später Vereine mit dezidiert politischer Zielsetzung. Doch obwohl sich Frauen in diversen Vereinen engagierten, sei es schwierig zu beurteilen, wer sie genau waren; Material und Quellen fehlten bislang, die weitere Rückschlüsse zuließen, bemerkte Brake und warb um Unterlagen zur Stadtgeschichte.
Die soziale Funktion, resümierte er, habe Frauen in die Lage versetzt, aus der Privatrolle herauszutreten. Dies sei anderen zum Vorbild geworden. Frauen hätten Verhaltensweisen eingeübt, die zuvor nicht möglich gewesen seien, wie die Entwicklung einer Diskussionskultur. Dies habe überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass 1919 das Frauenwahlrecht erkämpft werden konnte, schloss Brake.