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Digitale Verbrecherjäger

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Von: Kays Al-Khanak

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Der alte Joystick in Sascha Baldaufs Büro im Polizeipräsidium Mittelhessen ist nur Dekoration. © Oliver Schepp

Die Anzahl der Cyberstraftaten hat nach Angaben des Bundeskriminalamts im Jahr 2021 einen Höchstwert erreicht. Gleichzeitig machen es die Straftäter den Ermittlern schwer, ihnen auf die Schliche zu kommen. Auch deshalb brauche es mehr IT-Experten bei der Polizei, sagt der Leiter des Zentralkommissariats 50 in Gießen, Sascha Baldauf.

Eine Bande hat im großen Stil Drogen über eine illegale Plattform im Darknet verkauft. Im Prozess am Landgericht Gießen werden seitenweise Chatnachrichten verlesen, die Einblick in das Innenleben der Gruppe gewähren. Szenenwechsel: Ein Mann soll zwei Jungen sexuell missbraucht haben. Beweise finden sich auf seinen Festplatten, auf denen er die Ordner penibel sortiert und nach Sexualpraktiken benannt hat. Sie ermöglichen es, dass er überführt und am Landgericht verurteilt werden kann. Es geht über die Gutfleischstraße ins Amtsgericht. Dort müssen sich zwei junge Männer wegen Körperverletzung verantworten, weil sie laut Staatsanwalt »wie die Wikinger« andere junge Menschen angegriffen haben. Für die Ermittler sind die WhatsApp-Nachrichten vor und nach der Tat sowie die Funkdatenauswertung von entscheidender Bedeutung.

Die drei Straftaten haben eines gemeinsam: Die Auswertung der digitalen Spuren hat einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet. Beim Polizeipräsidium Mittelhessen in Gießen gibt es dafür das Zentralkommissariat (ZK) 50 für Internet- und Computerkriminalität, Digitalforensik und Digitalen Erkennungsdienst.

Die Anzahl der erfassten Cyberstraftaten hat im Jahr 2021 bundesweit einen Höchstwert erreicht. Im Bundeslagebild des Bundeskriminalamts ist die Rede von 146 363 Delikten. Dies entspricht einem Anstieg um mehr als zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Diese Entwicklung ist für die Ermittler Ausdruck der fortschreitenden Verlagerung von Kriminalität in den digitalen Raum. Vor allem die zunehmende Verzahnung internationaler Lieferketten sowie die beschleunigte Digitalisierung - auch durch die Corona-Pandemie - schaffe eine Vielzahl neuer Tatgelegenheiten für Cyberkriminelle, teilt das BKA mit. Die Aufklärungsquote lag mit 29,3 Prozent weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Gründe sind die verstärkte Anonymisierung im Netz sowie die komplexe Ermittlung von aus dem Ausland tätigen Tätern. Die Ermittler gehen von einem hohen Dunkelfeld in diesem Deliktsbereich aus.

Da braucht es Menschen, die auf der hellen Seite der Macht stehen. Bei Sascha Baldauf ist dies an einem Herbstmorgen jedenfalls der Fall, wenn man zumindest dem mit einem Star-Wars-Aufkleber versehenen Lichtschalter glauben darf. Denn der zeigt auf den guten Meister Yoda - und nicht auf den bösen Darth Vader aus dem Weltraummärchen. Wer das ZK 50 besucht, wähnt sich in einer Welt zwischen Polizei, Pop- und römischer Bäderkultur. Im Eingang des gesicherten Bereichs finden sich an den Wänden alte Kacheln aus der Gail-Zeit. Nur wird das Plätschern des Wassers durch das Surren der Rechner ersetzt. In den Büros hängen Plakate von Filmen wie Braveheart, von SciFi-Comic-Serien wie Futurama oder von PC-Rollenspielen wie Skyrim. Im Büro von Kommissariatsleiter Sascha Baldauf stehen eine alte Commodore-64-Tastatur und ein alter Joystick.

Es handelt sich aber nicht um eine Wohngemeinschaft, in der gezockt oder Filme geschaut wird. Hier haben die Mitarbeiter alle Hände voll zu tun, um Fälle zu lösen und Kollegen zu unterstützen. Seit dem 1. April ist Baldauf Leiter des ZK 50. Der 49-Jährige ist gelernter Schlosser und seit 1994 Polizeibeamter. 2010 wechselte er als Sachbearbeiter ins Zentralkommissariat.

Alleine am Namen der Einheit kann man erkennen, wie breit ihr Aufgabenfeld ist. Allgemein geht es um Polizeiarbeit im IT-Bereich. Dazu zählen Cyberstraftaten wie das Ausspähen oder Abfangen von Daten, Datenhehlerei, Computerbetrug oder Softwarepiraterie. Zudem gehen die Ermittler gegen Betreiber krimineller Handelsplattformen vor - Stichwort Wall Street Market.

Einen großen Anteil der Arbeit des ZK 50 macht der Service für alle anderen Einheiten der Polizei aus: also die Untersuchung und Auswertung von Datenträgern wie Festplatten, Computern oder Smartphones sowie die digitale Spurensuche am Tatort bei Ermittlungen jeder Art. Baldauf erklärt, dass selbst Staubsaugerroboter digitale Spuren hinterlassen. Oder ein Einbrecher nutzt Programme, um App-gesteuerte Jalousien zu öffnen. Auch steht das ZK 50 für alle Fragen rund um den IT-Bereich bereit, die in einer Ermittlung aufkommen können. Und das sind viele. »Wir gehen in jede Arbeitsgemeinschaft und Sonderkommission als Berater mit hinein«, sagt Baldauf.

Das alles braucht Zeit - und stellt die Ermittler vor Herausforderungen. Denn die Masse an Daten wächst. Hatte früher ein Speichermedium acht Gigabyte, sind es heute ein Terrabyte. Das bedeutet auch, dass es zum Teil mehrere Tage braucht, um einen Laptop oder ein Smartphone aufzubereiten und die darauf enthaltenen Daten zu sichern. »Und von den Smartphones haben wir aktuell über 100 hier liegen«, betont Baldauf.

Weil die Polizei es mit zum Teil hochprofessionellen Verbrechern zu tun hat, muss sie technisch, aber auch personell mithalten. Noch vor 2004 kümmerte sich das Betrugskommissariat um Cyberstraftaten. Drei Jahre später wurde das ZK 50 eingerichtet. Damals arbeiteten in Gießen vier Mitarbeiter, heute sind es 17.

Doch mit der Mitarbeiterzahl ist es nicht getan. Es brauche ausgebildetes Personal bei der Polizei, betont Baldauf. Gelernte Polizisten, die zum ZK 50 stoßen, haben in der Regel keine tiefgehenden IT-Kenntnisse. »Sie arbeiten bei uns als Auswerter, können aber nicht Forensiker werden«, betont der Kommissariatsleiter. Doch gerade diese Digitalforensiker werden benötigt, um digitale Spuren zu entdecken. Sie müssen nicht nur Endgeräte auswerten und sozialen Interaktionen von Tatverdächtigen nachspüren, sondern müssen sich auch mit der Hardware auskennen.

Als Beispiel nennt Baldauf Erpressungen von Institutionen oder Unternehmen durch das Einschleusen einer Ransomeware ins System. Die von den Cyberkriminellen gesperrten Daten werden in der Regel erst freigegeben, wenn eine hohe Geldsumme gezahlt wurde. »Und wohin fließen die Millionenbeträge?«, fragt Baldauf und liefert gleich die Antwort: »Zum Beispiel auch in die Finanzierung von Terror und Krieg.«

Baldauf glaubt, dass die Speicherung von Verkehrsdaten im Netz die Ermittlungen zumindest vereinfachen könnte. Doch die ist in Deutschland nicht verfassungskonform. Erst Ende September dieses Jahres hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die deutsche Regelung gegen EU-Recht verstößt. Baldauf zieht als Vergleich die Halterabfrage bei Fahrzeugen heran. »Viele fahren ein Auto, und alle haben ein Kennzeichen. Wir als Polizei können über die Verwaltungen ein Kennzeichen erfragen.« Dies sollte auch mit einer IT-Adresse möglich sein, wenn Provider wie die Telekom die IP-Adresse für eine gewisse Zeit vorhalten. Nur: Ein Ermittlungserfolg ist damit nicht gesichert. Denn die Profis unter den Cyberkriminellen haben ihre Mittel und Wege, um ihre Tatbeteiligung zu verschleiern.

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