Die »Rettung« des Schiffenbergs

Droht dem beliebten Ausflugsziel der Verfall? Jedenfalls fällt der Appell »Rettet den Schiffenberg« auf fruchtbaren Boden. Tausende unterstützen vor 50 Jahren die Übergabe der Domäne vom Land an die Stadt Gießen. Aus einem Landwirtschafsbetrieb mit Gaststätte wird ein Ort der Freizeit und Kultur. In diesen Tagen findet der Gießener Kultursommer vor der einzigartigen Kulisse statt.
Unverändert bleibt das vielleicht Wichtigste.
Das »Paradies vor der Tür der Stadt« sei gefährdet. Das Land Hessen als Eigentümer biete »ein trauriges Bild von Planlosigkeit und Inaktivität«. Mit dieser Warnung tritt eine Bürgerinitiative im Oktober 1971 an die Öffentlichkeit. Es dauert kein Jahr, bis ihre Aktion »Rettet den Schiffenberg« ihr Ziel erreicht: Am 2. September 1972 übergibt das Land die Domäne bei einem Fest an die Stadt Gießen.
Die Gruppe hat den 1929 gegründeten Verein »Heimatvereinigung Schiffenberg« auf ihrer Seite und sammelt innerhalb weniger Wochen 2200 Unterschriften. Ziel ist, das im zwölften Jahrhundert gegründete ehemalige Kloster »wieder attraktiver zu machen und seine Zukunft zu sichern«.
Denn nach 135 Jahren hat das Land Hessen den Pachtvertrag mit der Familie Lyncker nicht verlängert. 1964 hat es angekündigt, der Schiffenberg solle touristisch genutzt werden. Passiert ist nichts. Dabei wäre so vieles denkbar, meint der Mitiniator und Stadtverordnete Rudolf Stein: Reiten, Kindersport, Waldlehrwege, ein Trimm-dich-Parcours oder eine kleine Freilichtbühne.
60 Schweine leben auf dem Gelände
Am Tag nach dem Aufruf erscheint ein Leserbrief in der GAZ. »Die Klosterdomäne ist einer der wenigen Flecke, der noch nicht der Renovierungs-Wut zum Opfer gefallen ist«, klagt ein Gießener. Gerade die Verflechtung von Landwirtschafts- und Restaurationsbetrieb mache den Ort so reizvoll.
Solche Kritik bleibt ein Einzelfall. »Viel Ruhe und wenig Rummel« wünscht sich zwar eine »überwältigende Mehrheit« der Teilnehmer an einer Fragebogenaktion, die der Magistrat bereits im November 1971 durchführt. Nicht in Frage steht jedoch das Vorhaben, die Gaststätte mit neuem Pächter zu professionalisieren und um ein Hotel zu erweitern. Damit verbunden ist das Aus für die Landwirtschaft. Unter anderem halten die Lynckers 60 Schweine.
Die Familie hat den Schiffenberg seit 1837 bewirtschaftet und, das betonen die Vertreter der Stadt, »immer ihre Pflichten erfüllt«. Ihnen wird ein Aussiedlerhof, dem älteren Ehepaar dann auch das Wohnrecht auf dem Gelände zugesagt. Doch sie werden die Anlage samt ihrem Familienfriedhof verlassen.
Was ändert sich nun? Ein beliebtes Ausflugsziel ist der 281 Meter hoch gelegene Hausberg schon seit Generationen. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte er »eine glanzvolle Zeit der Studentenromantik« mit Verbindungsfesten und Fechtkämpfen, schwelgt ein Beitrag in der GAZ. Auch gewohnt haben Studenten zeitweise in der Anlage. Auf Ansichtskarten und in Liedern wird die Maibowle ebenso gepriesen wie die schöne Natur. Nun soll der »Hausberg« jederzeit für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Der lange vernachlässigte Gebäudebestand wird saniert und der Innenhof vergrößert.
In drei Bauabschnitten investiert die Stadt bis 1977 weit über drei Millionen D-Mark in den Umbau. Das Land steuert 100 000 DM bei, die Evangelische Kirche 25 000 DM für die Basilika. In Abstimmung mit den Denkmalschutzbehörden werden die jüngeren Wirtschaftsgebäude abgerissen. Im Innenhof entstehen ein Kiosk und Toiletten. Das Gasthaus in der ehemaligen Komturei wird entkernt und vergrößert.
Bel(i)ebt nicht nur bei Veranstaltungen
Ab 2003 folgen weitere Arbeiten zum Erhalt der Anlage, die rund fünf Millionen Euro kosten. Für die vorbildliche Sanierung der Basilika, als Bauwerk von nationaler Bedeutung eingestuft, erhält die Stadt 2016 den Hessischen Denkmalschutzpreis.
Das vor 50 Jahren ausgerufene Ziel ist erreicht: Der Schiffenberg ist ein beliebtes und belebtes Schmuckstück. Im Alltag führen zahlreiche Spaziergänge zum »Hausberg«. Konzerte, Feiern und Märkte ziehen viel Publikum an. Gerade findet dort der Gießener Kultursommer fest. Die einzigartige Atmosphäre im Innenhof wird auch von den Stars der deutschen Musikszene geschätzt.
Mehrfach haben die Pächter der Gaststätte gewechselt, der Hotelbetrieb ist eingestellt. Eine von den Lynckers begründete Tradition allerdings lebt bis heute fort: Nach der grandiosen Aussicht kann man im Innenhof auch heute noch Streuselkuchen und Apfelwein genießen.
