„Die Preise schießen senkrecht in die Höhe“: Stadtwerke Gießen reagieren auf Kritik

Die Stadtwerke Gießen (SWG) müssen bei der Erhöhung der Strompreise Kritik einstecken. Nun sorgt der Krieg in der Ukraine dafür, dass die Energiepreise noch weiter explodieren.
Kurz vor dem Ukraine-Krieg mussten die Stadtwerke Gießen (SWG) bei der Erhöhung der Strompreise Kritik an ihrer Informationspolitik einstecken. Nun sorgt der Krieg dafür, dass die Energiepreise noch weiter explodieren. Der kaufmännische Vorstand der Stadtwerke, Jens Schmidt, erklärt im Interview die Situation, räumt Fehler ein und skizziert die Zukunft auf dem Energiemarkt.
Herr Schmidt, noch im November hatten Sie versprochen, die Stadtwerke werden den Strompreis 2022 nicht erhöhen. Haben Sie Ihr Versprechen gebrochen?
Ich hatte gesagt, wir werden den Strompreis zum 1. Januar 2022 nicht erhöhen. Das hat ja auch gestimmt. Niemals würde ich sagen, dass ich weiß, wie die Preise im gesamten nächsten Jahr auf dem Energiemarkt laufen. Der 1. Januar ist normalerweise der typische Anpassungstermin für Preise, wegen der EEG-Umlage und wegen Steuern und anderer Umlagen. Und da haben wir im November gesagt, zum Januar werden wir keine Preiserhöhung vornehmen.
Viele Kunden rätseln, warum die Stadtwerke zum 1. April die Strompreise in der Grundversorgung nur um 3 Cent bzw. 10 Prozent pro Kilowattstunde anheben, während andere Kunden in Tarifen wie Power-Pack 9 Cent bzw. über 30 Prozent mehr bezahlen müssen. Woran liegt das?
Bei den Power-Pack-Pur-Tarifen, die in der Regel eine Laufzeit von einem Jahr haben, kaufen wir Strom kurzfristiger ein als bei der Grundversorgung. Wir prognostizieren, wie viele Kundinnen und Kunden sich für Power-Pack-Pur entscheiden werden, und aus dem historisch bekannten Durchschnittsverbrauch ergibt sich die Strommenge, die wir dann zu einem Stichtag beschaffen. In Zeiten, in denen die Strompreise tendenziell gesunken sind, konnten wir Power-Pack-Pur deshalb günstiger anbieten als die Grundversorgung, wo wir die benötigte Menge ratierlich über Jahre im Voraus einkaufen und aktuell noch von niedrigeren Beschaffungspreisen der letzten Jahre zehren. Aufgrund der derzeit außergewöhnlich hohen Preise auf dem Strommarkt mussten wir nun bei den Power-Pack-Pur-Tarifen eine überproportional hohe Preisanpassung im Vergleich zur Grundversorgung vornehmen. Über 30 Prozent mehr bei Power-Pack-Pur hört sich zwar zunächst viel an, aber der Preis pro Kilowattstunde liegt nach dieser Erhöhung trotzdem nur sehr geringfügig über den Preisen in der Grundversorgung.
10 Prozent Preissteigerung klingt angesichts der Preisexplosion auf den Märkten sehr moderat. Bilden diese 10 Prozent die Marktlage überhaupt realistisch ab?
Nein. Sie bilden unsere Beschaffungssituation ab. Die Marktsituation ist viel höher. Im Moment müssten wir viel teurer situativ am Strommarkt einkaufen. Aber wir haben über drei Jahre ratierlich beschafft. Deshalb bildet der Preisanstieg die Preise der letzten drei Jahre ab.
Hohe Strompreise in Gießen: Kunden fühlen sich übervorteilt
Einige Ihrer langjährigen Power-Pack-Pur-Kunden beklagen, sie müssten nun die Zeche dafür bezahlen, dass die Stadtwerke Kunden von anderen Stromanbietern aufnehmen müssen und die Preise in der Grundversorgung trotzdem nur gering steigen.
Das ist definitiv nicht so. Wir haben alle Kunden gleich lieb. Wir kalkulieren faire Preise, wir übervorteilen niemanden. Wir sind fest der Meinung, allen Kunden gute Angebote gemacht zu haben. Der Gesetzgeber gibt uns außerdem enge Rahmenbedingungen bei den Strompreisen vor.
In der Pressekonferenz anlässlich der Erhöhung der Strompreise hatten Sie nur von einer Erhöhung von 3 Cent pro Kilowattstunde gesprochen - von 9 Cent für andere Kunden war nicht die Rede. Das hat viele Kunden geärgert.
Im Nachhinein muss man sagen, es war ein Fehler, nicht darüber zu sprechen. Die Preissteigerungen einzelner Tarife sind diesmal wirklich sehr unterschiedlich ausgefallen, das ist so nicht üblich gewesen in der Vergangenheit. Den Schuh einer schlechten Kommunikation ziehen wir uns an, ja. Uns war das aber bei der Pressekonferenz nicht bewusst, da wir bisher öffentlich immer nur über die Preise der Grundversorgung informiert haben.
Es gibt Stimmen, die behaupten, die Preise in der Grundversorgung würden in wenigen Wochen noch einmal deutlich steigen, und die Stadtwerke wüssten das jetzt schon. Stimmt das?
Nein. Wir haben im Moment keine Pläne diesbezüglich in der Schublade. Wir wissen nicht, wie die Preise sich entwickeln. Aber natürlich ist es so, dass sich der Krieg in der Ukraine wahrlich nicht dämpfend auf die Energiepreise auswirkt. Im Moment würde ich Ihnen nicht mal für die nächste Stunde eine Garantie auf Energiepreise geben. Die Preise schießen derzeit nicht wie eine steile Kurve, sondern senkrecht in die Höhe. Das macht uns Sorge. Wir hätten am liebsten Preise, die sich jeder leisten kann, das können Sie uns glauben.
Stadtwerke Gießen versuchen Familien bei hohen Strompreisen zu unterstützen
Wegen der hohen Preise, auch bei Gas, muss ein 4-Personen-Haushalt in diesem Jahr rund 1000 Euro mehr für Energie bezahlen als im Vorjahr. Rechnen Sie mit Zahlungsausfällen, wenn einkommensschwache oder verschuldete Familien diese Nachzahlungen nicht leisten können?
Ja, das ist ein Thema, das beschäftigt uns. Wir sind mit der Stadt im Gespräch, wie wir das hinbekommen, diese Familien zu unterstützen, etwa durch soziale Auffangnetze. Ein wichtiger Hinweis ist auch, dass Kunden ihre Abschlagszahlungen anpassen, damit die Nachzahlungen nicht zu hoch werden. Wenn Kunden mit uns reden, bieten wir auch Ratenzahlungen an. Und Energie sparen ist ebenso wichtig, dazu bieten wir Beratungen und Tipps an. Jede eingesparte Kilowattstunde Strom, Gas und Fernwärme ist wichtig.
Wie viel Strom produzieren die Stadtwerke inzwischen selbst? Sie arbeiten zum Beispiel mit Landwirten in der Region zusammen, um aus Biomasse Strom zu erzeugen.
Wir produzieren etwa 50 Prozent des Stromes, den wir an Privathaushalte verkaufen, selbst. Bei Großkunden gilt das nicht. Unser selbst produzierter Strom kommt hauptsächlich aus Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, aus Blockheizkraftwerken, die zum großen Teil mit Gas befeuert werden. Und er kommt auch aus der Müllverbrennungsanlage TREA II im Leihgesterner Weg und aus Biogasanlagen.
Wollen Sie diesen Anteil des selbst erzeugten Stroms sukzessive weiter erhöhen in den nächsten Jahren?
Wir haben bei den Stadtwerken kein Stromproduktionsziel, sondern eher ein CO2-Reduktionsziel. Ob das mit einer Stromerzeugung gekoppelt ist oder nicht, wird man erst mal sehen müssen, auch was die technischen Lösungen sind. Wir unterstützen natürlich das Ziel, Gießen 2035 klimaneutral zu bekommen. Das ist auch unser Ziel. Dabei wird vermutlich auch Stromerzeugung eine Rolle spielen, weil die Kopplung von Wärme- und Stromerzeugung eigentlich energetisch sehr gut zusammenpasst. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung mit dem Ukraine-Krieg wird Gas allerdings noch mal sehr, sehr, sehr genau auf den Prüfstand kommen.
Die Abhängigkeit vom Gas ist sehr hoch, dagegen lässt sich Fernwärme gut selbst produzieren. Würden Sie Ihren Kunden aufgrund des Krieges empfehlen, von Gas auf Fernwärme umzusteigen, sofern dies möglich ist?
Das ist eine echte Gewissensfrage. Wenn wir wirklich 2035 in Gießen oder 2045 in Deutschland klimaneutral sein wollen, dann geht das natürlich nicht mit russischem Gas. Das ist klar. Gas ist CO2-behaftet. Wir bauen die Fernwärme auch deshalb aus, weil der Schwenk zu einer CO2-freien Wärmeversorgung leichter in zentralen Anlagen zu vollziehen sein wird als dezentral in jedem einzelnen Keller. Wenn Wasserstoff Teil der Lösung sein sollte, dann wird man wahrscheinlich eine unserer Gas- und Dampfanlagen relativ leicht auf Wasserstoffbetrieb umstellen können und eine Pipeline mit Wasserstoff dorthin legen können. Das kann ich mir bei einem Privatkunden derzeit nicht vorstellen. Wie sich das alles entwickelt in der Technologie, weiß ich nicht genau. Die Tendenz wird aber sicher eher weggehen vom Gaskessel. Wobei Gas im Vergleich zu einem Ölkessel zunächst erst mal richtig war, um CO2 einzusparen.
Gießen: Stadtwerke soll unabhängiger von fossiler Energie werden
Was unternehmen die Stadtwerke noch, um möglichst unabhängig von fossilen Energieträgern zu werden?
Die Fernwärme geht ja schon in diese Richtung. Zentrale Anlagen sind leichter umstellbar. Dort lohnen sich Aufskalierungen, sie lassen sich leichter managen, dort lassen sich Stoffströme besser bewegen. Ein zentrales Holzschnitzelwerk, wie wir es zum Beispiel betreiben, ist bezüglich des Stoffstromes sehr gut zu befeuern. Im Gegensatz dazu kann nicht jeder so leicht seinen Keller mit Holz oder Pellets befüllen. Das ist zentral leichter, zumal viele neue Häuser keinen Keller mehr haben. Fernwärme ist sicher ein Teil der Lösung der Energiewende, davon bin ich fest überzeugt.

Wie wird sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine Ihrer Meinung nach auf die Lage auf dem Energiemarkt auswirken?
Russisches Gas wird sicher deutlich unliebsamer eingesetzt werden. Die Bundesrepublik sucht händeringend nach Diversifikation. Man sucht nach anderen Förderländern, die uns mehr Gas liefern, namentlich Norwegen. Parallel wird der Ausbau von LNG-Terminals vorangetrieben, also für Liquid Natural Gas, sodass Gastanker anlanden können in Europa. Das ist eher mittelfristig möglich, und mittelfristig hilft auch der Ausbau regenerativer Energien, damit man noch weniger Gas braucht. Aber das braucht auch Zeit, denn neue Windkraftanlagen stehen nicht gleich flächendeckend nächstes Jahr da.
Ist die Energieversorgung in Gießen vor dem Kriegshintergrund in den nächsten Monaten noch ausreichend gesichert?
Für den privaten Endkunden ja. Denn falls es zu Gas-Engpässen käme, würde das auf anderer Ebene geregelt werden, etwa indem man Gaskraftwerke kürzer fährt oder große Industriekunden mit der Belieferung reduziert.
2019 haben die Stadtwerke einen Gewinn von 9 Mio. Euro verzeichnet, im Jahr 2020 waren es 10,5 Mio. Euro. Was prognostizieren Sie für 2021?
Unser Jahresabschluss wird gerade erstellt. Ich würde sagen, unser Gewinn wird tendenziell sinken. (Interview: Jens Riedel)