Die Katastrophe ist nur eine WhatsApp-Nachricht entfernt
Gießen (seg). 2600 Kilometer liegt das Zentrum des Erdbebens, das nach bisherigen Informationen 11 000 Todesopfer in der Türkei und Syrien forderte, von Gießen entfernt. Doch für etliche Menschen in der Stadt bedeutet diese Distanz nichts, wenn das Leid der betroffenen Freunde und Angehörigen nur eine WhatsApp-Nachricht weit weg ist. Stimmen aus dem Asterweg und der Walltorstraße.
Ali Bayram ringt sichtlich mit der Fassung. Nachdem er sich eine Träne von der Wange wischt, sagt er: »Ich konnte erst niemanden erreichen.« Das Telefonnetz war nach dem Erdbeben teilweise ausgefallen, gleich mehrere Gießener erzählen, dass sie deswegen Probleme hatten, ihre Familien zu fragen, wie es ihnen geht. Das hat an Bayram genagt. »Erst um 12 Uhr hat es funktioniert.« Beinahe 10 Stunden Bangen um die Angehörigen lagen da hinter ihm. Seiner Familie geht es schließlich den Umständen entsprechend gut, aber ein Bekannter gehört zu den Todesopfern, wie er da erfuhr. »Wir versuchen gerade, zu organisieren, dass wenigstens die Frau und Kinder des Verstorbenen in Sicherheit in eine weiter entfernte Stadt gebracht werden.«
Kinder müssen im Park schlafen
Denn wie Freba Amini erzählt, sind die Zustände für viele Betroffene in der Krisenregion katastrophal. »Meine Cousine und ihre vier Kinder in Adana müssen draußen im Park schlafen.« Das Haus der Familie sei nicht mehr sicher, und so mussten sie die vergangenen Tage bei Temperaturen um den Gefrierpunkt unter freiem Himmel verbringen. »Das jüngste Kind ist dabei gerade einmal vier Jahre alt.« Die Situation sei schlimm.
Süleyman Adis und Mehmet Aydin haben beide keine Familienangehörigen unter den Opfern. Aber der Kollege von Aydin habe zwölf Verwandte durch das Erdbeben verloren. »Man ist gedanklich die ganze Zeit bei den Menschen vor Ort«, sagt der 32-Jährige. Die unvorstellbare Katastrophe gehe an niemandem, der aus der Türkei stamme, einfach so vorbei. »Man schämt sich auch irgendwie«, sagt Aydin. Weil man hier sitze und nicht viel tun könne - außer zu spenden »und Gebete zu schicken«.
Hanifi Dalkilic kennt das Gefühl. »Man ist selber betroffen.« Er habe in den vergangenen zwei Tagen vielleicht sechs Stunden geschlafen. Auch seine Familie lebt in der Krisenregion Adana, aber nur in einem zweistöckigen Haus. Eingestürzt seien jedoch hauptsächlich die Hochhäuser, so auch eines, das nur 100 Meter vom Haus seiner Familie entfernt stand. »Einfach grausam«, sagt Dalkilic.
Süleyman Adis ist es wichtig, auch auf das Leid der Menschen in Syrien hinzuweisen. Wegen der größeren Sprachbarriere bekomme man nicht so leicht Informationen von dort: »Aber man hört auch sehr wenig über Hilfen für die Menschen in Syrien gerade.«