Die Heilkraft der Bücher

Menschen, denen das geschriebene Wort wichtig ist, aber auch solche, die einfach nur auf dem Kirchenplatz chillen wollen, kommen aktuell bei der Aktion StadtLesen auf ihre Kosten. Einer der Höhepunkt im viertägigen Programm war nun eine Lesung mit Krimiautor Jan Costin Wagner.
Die Sonne scheint an diesem Donnerstagabend zwar, aber die Luft ist noch ein wenig kühl - und dennoch liegen auf dem Kirchenplatz viele Menschen in Hängematten oder entspannen sich auf Sitzsäcken. Nicht jeder ist gekommen, um sich eines der 3000 ganz unterschiedlichen Bücher von 127 Verlagen aus dem Bücherturm zu greifen, die die Aktion StadtLesen noch bis Sonntag auf dem Kirchenplatz bereitstellt. Schließlich kann man im mobilen Wohnzimmer auch einfach nur nett beieinandersitzen. »Es scheint, als habe der Platz darauf gewartet, so genutzt zu werden - gerne auch länger«, freut sich Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher in seiner kurzen Rede zum Start der Aktion, für die Gießen als eine von 25 Städten auserwählt wurde.
Doch natürlich geht es bei StadtLesen, das ein Beitrag zur Feier des 125-jährigen Bestehens der Stadtbibliothek ist, in erster Linie ums Lesen und Vorlesen. Auch um die »Heilkraft der Bücher«, wie StadtLesen-Gründer Sebastian Mettler, betont und darum, in den Köpfen eine Welt voller Fantasie entstehen zu lassen.
Harte Themen und sanfte Töne
Einer der das gut kann, ist der in Frankfurt lebende Krimiautor Jan Costin Wagner, der an diesem Abend auf der roten Buch-Bühne vorliest, was dank der LautsprecherÜbertragung auch auf dem belebten Platz erstaunlich gut funktioniert.
Und daran hat Wagner, der sein Publikum immer wieder animiert, Fragen zu stellen, großen Anteil. Er hat nicht nur seinen Krimi »Am roten Strand« dabei und auf dem Smartphone dessen Nachfolgeband »Einer von den Guten«, der im August erscheint, - sondern auch ein elektronisches Klavier. Darauf spielt er zwischen den Lesepassagen von ihm selbst komponierte, träumerische Klavierstücke. »Die Musik entsteht, während ich schreibe. Ich brauche diesen Beziehungspunkt emotionaler Art«, verrät er seinen Zuhörern, von denen sich viele in die vom StadtLesen-Team gereichten Decken hüllen.
Dabei wirkt seine Musik als scharfer Kontrast zum düsteren Stoff in seinen Büchern. Denn in der als Trilogie angelegten Reihe um Ermittler Ben Neven decken die Ermittler ein Netz von Pädophilen auf. Dabei finden sie sich in der paradoxen Situation wieder, dass sie einerseits gegen Verbrecher ermitteln, deren Taten sie verstören, - und dass sie die Täter gleichzeitig vor einer unbekannten Bedrohung schützen müssen. Und ausgerechnet Ermittler Ben Neven kämpft mit den Dämonen seiner eigenen pädophilen Neigungen - ein Geheimnis, vor dem er sich selbst entsetzt. Er habe eine Figur gesucht, die mich am meisten herausfordert, bekennt der Autor.
Jan Costin Wagner, der mit Krimis um den trauernden finnischen Kommissar Kimmo Joentaa bekannt geworden ist, erweist sich als Autor, der das Vorurteil, er schreibe »dunkle«, skandinavische Romane, und gehe immer dahin, »wo es wehtut«, offenkundig Lügen strafen will. Als Lesebeispiele zu StadtLesen ausgesucht hat er nämlich eher hoffnungsvolle Kapitel, in denen sich ein Stricherjunge in ein Mädchen verliebt oder ein früheres Missbrauchsopfer, das mit einem Polizisten befreundet ist, erleichtert sagt: »Ich glaube, ich lebe«. Er sei getrieben von der Sehnsucht, dass »das Leben den Tod überwindet« und wolle »dem Leben zum Sieg verhelfen«, erläutert Wagner seine Intention - um dann doch noch ein Kapitel zu lesen, das die Fallhöhe des Ermittler als Familienvater und Mann mit pädophilen Neigungen subtil beschreibt.
StadtLesen geht noch bis Sonntag weiter. Jeder kann auf dem Kirchenplatz von 9 Uhr bis Einbruch der Dunkelheit Schmökern. Am Sonntag um 14 Uhr gibt es noch eine Lesung in Einfacher Sprache des Lebenshilfe-Literaturcafés.