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Die »Engel« mit den roten Kisten

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Von: Christine Steines

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Linda Can freut sich jede Woche auf die Lebensmittel von der Tafel. Und sie freut sich auf ein Schwätzchen mit Axel Neumann. © Oliver Schepp

Die meisten Nutzer holen ihre Lebensmittel bei der Tafel ab. Doch nicht alle können das. Für schwer kranke oder nicht mobile Menschen gibt es einen Bringdienst. »Das sind meine Engel«, sagt Linda Can. Wer mit einem solchen »Engel« unterwegs ist, bekommt beklemmende Eindrücke davon, welche Lebens- und Leidensgeschichten sich hinter manchen Türen verbergen.

Der alte Herr trägt Schlafanzug und offene Schlappen. »Ich habe keine Schuhe mehr, ich muss mir mal ein Paar besorgen«, sagt er und zeigt entschuldigend auf seine Füße. Er hat gerade gekocht, in der kleinen, vollgestellten Wohnung riecht es nach Bratkartoffeln. »Wie geht es heute?«, fragt Axel Neumann. Der Mann winkt ab. »Ich will hier nicht weg«, gibt er zur Antwort, »solange ich klarkomme, bleibe ich.« Der Bewohner der Hinterhofwohnung ist schwer krank, einen Platz im Hospiz hat er abgelehnt. Er bedankt sich für die Lebensmittelkiste und gibt »dem Axel« mit auf den Weg, dass er sich immer »über was Frisches« freut.

»Der Axel«, das ist ein hemdsärmeliger Typ vom Bringdienst der Tafel. Jede Woche beliefert er gemeinsam mit einer Kollegin Menschen, die nicht in die Weststadt kommen können, um sich ihre Lebensmitel abzuholen. Er hat einen guten Draht zu seinen »Kunden«, was nicht zuletzt an der freundlichen »Ruhrpottschnauze« des früheren Dortmunders liegt.

In seinem früheren Leben war er Anästhesist im Krankenhaus Wetzlar, jetzt hilft der Mediziner Menschen auf andere Art. »Meine Frau meinte, ich brauche eine Tagesstruktur«, beantwortet er grinsend die Frage nach der Motivation für sein Ehrenamt. »Man wird dankbarer und demütiger«, fügt er ernst hinzu. Was er damit meint, versteht man während seiner nachmittäglichen Tour nur zu gut.

Ein enger, düsterer Aufzug ruckelt nach oben in den fünften Stock. Die Bewohnerin wartet schon an der Tür. Sie reicht Neumann die leere Kiste und nimmt lächelnd die neue Ware entgegen. Neumann hat beim Beladen des Autos den letzten Strauß Blumen aus dem Regal gefischt. »Ich weiß, dass sie das gerne hat«, sagt er.

Und richtig. Die Frau strahlt, sie freut sich riesig über die schon etwas schlappen Winterröschen und über alles andere auch. »Danke, danke«, sagt sie immer wieder. Sie sieht oft tagelang niemanden, die Leute von der Tafel sind der einzige Besuch. Nicht alle sind so dankbar. Wie überall im Leben gibt es Nörgler, denen die Auswahl der Lebensmittel nicht gefällt, die darüber schimpfen, wenn der Bringdienst nicht pünktlich ist oder die erwarteten Weihnachtsplätzchen nicht dabeihat. »Das kommt vor«, sagt Neumann. Aber das sind Ausnahmen. Bei ihren Besuchen erleben die Ehrenamtlichen die ganze Bandbreite verschiedener Menschentypen: Die wortkargen und die überschwänglichen, die freundlichen und die barschen.

Allen gemeinsam ist, dass sie am Rande der Gesellschaft leben. Sie haben sehr wenig Geld, sie plagen sich mit schweren Krankheiten, viele von ihnen sind sozial isoliert. Es sind die Vergessenen in engen Hinterhofwohnungen und anonymen Siedlungshäusern.

Wobei vergessen nicht ganz korrekt ist, denn es gibt im sozialen Gefüge der Stadt durchaus Unterstützung. Es gibt eine ärztliche Versorgung und auch die sozialen Dienste der Stadt oder der Verbände können bei Bedarf eingeschaltet werden, schildert Tafel-Leiterin Anna Conrad. Dennoch sei die Not der Menschen groß.

Die Tafel kann mit ihren Lebensmitteln einen Beitrag zur Linderung leisten, aber nicht die Ursachen bekämpfen. Für die Ehrenamtlichen, das weiß Conrad nur zu gut, ist der Bringdienst mitunter belastend. »Das ist ein Job, der die Leute mitnimmt.«

Linda Can bekommt im Gegensatz zu den meisten anderen öfter Besuch von ihrer Familie und sie ist auch selbst mit dem Rollstuhl unterwegs in der Stadt. Die 62-Jährige ist schwer krank und fußamputiert, deshalb ist es eine große Erleichterung für sie, dass Neumann und seine Kollegen zu ihr kommen. »Ich finde das ganz großartig, ich bin sehr dankbar für die Hilfe der Tafel«, sagt die Gießenerin. »Der Axel« sei ihr »guter Engel«, betont Can. Innerhalb weniger Minuten erzählt sie ihm die neuesten Storys vom leidigen Busfahren mit dem Rollstuhl und den unnötig komplizierten Behördengängen, die sie erledigen muss. Beim Abschied drückt sie ihm ein paar Münzen in die Hand. Mal sind es zehn, mal 20 Cent. Der »Engel« freut sich, er nimmt das Trinkgeld gerne.

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