Der Weg zur Freiheit

Sie ist Mezzosopranistin, Pianistin, Gesangslehrerin. Gabriela Tasnadi besitzt viele Talente. Alle hat sie zum Beruf gemacht. Auch das Chöreleiten gehört dazu. Musik ist ihr Leben.
Ihr Augenmerk gilt jungen Talenten. Stimme, Atmung, Haltung. Intonation, Klang und Phrasierung. »Alles muss sitzen, ehe man auf der Bühne stehen kann«, sagt Gabriela Tasnadi. Die erfahrene Mezzosopranistin ist in der Region als Gesangspädagogin eine Institution. Seit mehr als 20 Jahren bildet sie in Gießen junge und jung gebliebene Sänger aus. »Meine Schüler sind im Alter von sechs bis 75 Jahren«, sinniert sie. Ihr Stimmtraining ist ein wenig wie das Arbeiten an einem Puzzle: Alle Teile richtig zusammengesetzt, ergeben erst das finale Bild.
Eines von Tasnadis Talenten macht gerade von sich hören. Die 14-jährige Sopranistin Diana belegte Ende März beim »Jugend musiziert«-Landesentscheid in ihrer Altersgruppe den zweiten Platz in der Kategorie »Pop« und tags darauf sogar den ersten Rang gemeinsam mit dem 18-jährigen Bariton Joachim im ernsten Fach als Gesangsduo. »Beide reisen im Juni zum Bundeswettbewerb nach Oldenburg«, freut sich die Lehrerin.
Selbst war Tasnadi ebenfalls ein großes Talent. Mit vier Jahren erhielt sie den ersten Klavierunterricht. Mit sechs verzückte sie die Zuschauer im Fernsehen mit einem Wiegenlied. »Angeblich konnte ich singen, bevor ich sprechen gelernt habe«, lacht die Sängerin in einem dunklen Timbre, das ihr prächtiges Stimmvolumen erahnen lässt.
1965 in Rumänien geboren und aufgewachsen, genoss die kleine Gabriela die staatlich geförderte musikalische Früherziehung, auch wenn ihr der Sozialismus später so gar nicht behagte. Schon beizeiten nahmen die Eltern, der Vater Jurist, die Mutter Konditorin, ihre Tochter mit in die Oper. Ergebnis: Zwölf Jahre verbrachte Gabriela auf einem musikalischen Gymnasium. Nur den Besten gelang der Abschluss. Acht Jahren akribischem Klavierunterricht folgten vier Jahre der Ausbildung zur Sängerin mit Klavier im Nebenfach sowie an der Hochschule Musiktheorie, Harmonielehre, Musikgeschichte, Chor und Ensembleleitung. »Drunter taten sie’s nicht.«
Carmen als Lieblingspartie
Mit 17 debütierte Tasnadi auf der Opernbühne, mit 19 ereilte sie der Ruf aus Görlitz in der damaligen DDR zu ihrem ersten Engagement. »Was habe ich geheult, weil ich kein Wort Deutsch konnte«, erzählt sie von ihrer mutigen Einsamkeit. Doch der »Weg zur Freiheit«, auch stimmlich, ein von ihr gern genutztes Zitat des großen rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache, war programmiert. Schnell gewann die extrovertierte Solistin Freunde und startete in ihrer Karriere durch. Dessau, Regensburg, Staatsoper Dresden, Komische Oper Berlin und schließlich die Oper Frankfurt lauten einige ihrer Stationen.
Die Carmen aus der gleichnamigen Oper von Georges Bizet gehört zu ihren Lieblingspartien. »Die habe ich über hundert Mal gesungen. Zuletzt vor 20 Jahren.« Als Favorit unter den Komponisten nennt sie Giacomo Puccini, obschon der kaum für Mezzosopran schrieb. »Seine Verismo-Opern gehen unter die Haut«, erklärt die Expertin. »Es sind aus dem Leben geschnitzte komplexe Meisterwerke.«
Auch wenn sie nicht auf der Bühne steht, legt Tasnadi Wert auf ein durchgestyltes Outfit. Die dunkle Lockenpracht ist ihr Markenzeichen. »Eigentlich habe ich glattes Haar«, lächelt sie mit einem Verweis auf den Lockenstab. »Und ohne Lippenstift aufgetragen zu haben, bringe ich nicht mal den Müll raus.« Da passt das Rampenlicht als Sehnsuchtsort. »Die Möglichkeit, in der Oper Gefühle mit der Welt zu teilen, ist mir ebenso wichtig, wie in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, um das Publikum in zauberhafte Welten zu entführen.«
Inmitten ihrer zauberhaften Welten zog die Künstlerin 1997 nach Gießen. Ein Musiker hatte ihr Herz erobert. Im folgenden Jahr kam Sohn Antonius zur Welt. Die junge Mutter steckte die eigene Gesangskarriere zurück. »Mir war es wichtig, meinen Jungen aufwachsen zu sehen.« Vor einigen Jahren ging die Ehe mit dem Musiker zu Bruch. Die Liebe zu Antonius, der derzeit in Karlsruhe Informatik studiert, währt selbstredend ewig. »Er ist mein Ein und Alles.« 1999 begann Tasnadi, erste Chöre zu leiten. Wie sie dazu kam? »Wie die Jungfrau zum Kind.« Der Sängerkranz Dietzenbach suchte einen neuen Chorleiter. »Es war Liebe auf den ersten Blick«, bekennt sie, nahm an Fortbildungen teil und wurde Chordirektorin FDC (Fachverband Deutscher Berufschorleiter).
»Bis heute ist es für mich eine spannende Aufgabe, aus unterschiedlichen Stimmen einen Klangkörper zu modellieren.« Einige Ensembles hob Tasnadi mit aus der Taufe. Wie viele Chöre sie bislang geleitet hat? Nach dem ersten Dutzend hört sie auf zu zählen.
Von sechs bis in den Abend
Seit Jahren arbeitet die Gesangspädagogin auch als Lehrerin an der Musikschule Gießen, der Unterrichtsraum ist das eigene Wohnzimmer im vierten Stock ihrer Innenstadtwohnung. Der elektrische Yamaha-Flügel prägt den großen Raum, die Dachterrasse lockt im Sommer ins Freie.
Montagmorgens unterrichtet Tasnadi zwei Stunden Chorgesang an der Gesamtschule Gießen-Ost. Ansonsten kommen vor- und nachmittags Gesangs- und Klavierschüler zu ihr ins Haus. Abends dirigiert sie ihre Chöre. An den Wochenenden warten Wettbewerbsvorbereitungen, Seminare oder Konzerte. Wie das alles unter einen Hut zu kriegen ist? »Ich stehe morgens um sechs auf und bin bis abends beschäftigt.«
Was die Zahl der Schüler betrifft, ist die Sängerin ausgebucht. Ständig erreichen sie neue Anfragen. Mal wieder einen wohltönenden jungen Mezzosopran in die richtige Spur bringen, das wäre so nach ihrem Geschmack. Was diese Stimmlage auszeichnet? »Sie besitzt einen samtigen, runden Klang.« Ist also in der Färbung dunkler als ein Sopran und hat eine kräftige Mittellage.
Tasnadi lächelt, als sie die Charakteristika erklärt, so als entdecke sie gerade ein neues kleines Detail, das sie dem Puzzle der menschlichen Stimme hinzufügen könnte. Und wer weiß: Vielleicht klingelt morgen schon das nächste Talent an ihrer Tür.