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Verlust des studentischen Flairs: Viele Gießener Studenten bevorzugen Home-Office

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Von: Christoph Hoffmann

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Einige Studenten fürchten eine Entfremdung von der Universität. © Oliver Schepp

Die Studentenzeit ist für viele Menschen prägend und mit besonderen Erinnerungen verbunden. Doch dieser besondere Flair ist in Gießen in Gefahr, sagen einige Studenten.

Gießen - Die ZVS, die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze, hat in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Menschen nach Gießen gespült, die von der Stadt zuvor - wenn überhaupt - nur Schlechtes gehört hatten. Doch nicht wenige von ihnen haben sich nach dem ersten Schock verliebt. Das Nachtleben mit seinen urigen Kneipen und Clubs, das kulturelle Angebot, die Wohngemeinschaften - Stichwort K1 - und nicht zuletzt der Alltag rund um die Campusse sind Gründe dafür. Doch dieses studentische Leben in Gießen wandelt sich, und in den Augen vieler nicht zum Guten.

Ina Daßbach ist an der JLU wissenschaftliche Mitarbeiterin. »Meine Studierenden erzählen mir oft, dass sie eigentlich nur noch mit dem Auto an die Uni fahren, um dort Kurse zu besuchen oder mal in die Bibliothek zu gehen, danach geht’s aber direkt wieder heim.« Zu ihrer eigenen Studentenzeit, die 2011 begann, sei das noch ganz anders gewesen. »Wir haben im Café am Kunstweg gefrühstückt, in der Mensa zu Mittag gegessen und uns abends noch einmal mit einem belegten Brötchen in der CuBar versorgt. Wir haben zwischen den Veranstaltungen im Sommer auf der Wiese vor der UB gesessen und im Winter in den Cafés gequatscht.«

Uni Gießen: Entfremdung durch Digitalisierung

Wie für Tausende anderer junger Menschen sei der Platz vor dem Uni-Hauptgebäude zudem der Ausgangspunkt für das Wochenende gewesen, sagt Daßbach und betont, dass sich ihr studentisches Leben viel mehr an und in den Uni-Gebäuden abgespielt habe, als es bei heutigen Studierenden der Fall sei. »Ich sehe am Campus viel weniger Studierende in Gruppen zusammenarbeiten. Dieser Teil des Studierens scheint sich individualisiert oder in Privaträume oder Cafés außerhalb der Uni verlagert zu haben.«

Die Gießener Uni hat in der Vergangenheit mehrere Krisen bewältigen müssen. Den Hackerangriff 2019 zum Beispiel, natürlich Corona, und nicht zuletzt die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöste Energiekrise. Vor allem durch die Pandemie hat die Hochschule zusätzliche digitale Angebote geschaffen. Während der Hochphase der Pandemie war das vorteilhaft, nun zeigen sich aber auch Nachteile.

»Tatsächlich stellen wir fest - ebenso wie andere Hochschulen -, dass der Digitalisierungsschub während der Pandemie das Campusleben offenbar verändert hat«, sagt JLU-Sprecherin Lisa Dittrich. Der allergrößte Teil der Lehre werde immer noch in Präsenz angeboten, was viele Studierende begrüßen würden. Es gebe aber auch junge Menschen, die sich deutlich mehr digitale Angebote wünschten und so viel Zeit wie möglich im Homeoffice verbringen wollten. »Dass damit im schlimmsten Fall eine gewisse Entfremdung einhergehen kann, schließen wir nicht aus«, sagt die JLU-Sprecherin.

Studenten in Gießen haben „Studium nur in aufeinanderfolgenden Krisen verbracht“

In den Augen von Daßbach gibt es jedoch weitere Ursachen für besagte Entfremdung. Zum einen sei die Versorgung durch Mensen und Cafeterien durch Corona zusammengeschrumpft und teurer geworden. Hinzukämen das millionenschwere Finanzloch am Fachbereich 03 inklusive lärmender Dauerbaustellen auf dem Campus. »Das alles wird aus meiner Sicht von einer schon Jahre andauernden Bildungskrise überlagert. So wie ich das Arbeiten an der JLU nur im Krisenmodus kenne, haben die meisten der derzeitigen Studierenden an der JLU ihr Studium nur in aufeinanderfolgenden Krisen verbracht«, sagt Daßbach und nennt als Verbesserungsmöglichkeiten unter anderem Modernisierungen der alten Gebäude, ein Mensa-Angebot wie zu Zeiten vor Corona, Einrichtung von Gruppenräumen sowie mehr Stellen in der Lehre, um die Qualität zu halten.

Dittrich will das so nicht unterschreiben. »Bei allem verständlichen Verdruss über lästigen Baulärm können wohl die allermeisten JLU-Angehörigen nachvollziehen, dass eine deutlich verbesserte bauliche Infrastruktur, eine neue Bibliothek und ein runderneuerter Campus nicht geräuschlos zu haben sind.« Es handele sich zudem nicht um ein neues Phänomen, schließlich gebe es seit Jahren umfangreiche Baumaßnahmen an der JLU.

Auch zur Verpflegung durch das Studentenwerk bezieht Dittrich Stellung: »Wir haben großes Vertrauen in die Kolleginnen und Kollegen, dass der bereits jetzt erkennbare deutliche Ausbau des Angebots in den nächsten Monaten weiter fortgesetzt wird«, sagt die Pressesprecherin und betont: »Eine flächendeckende Versorgung mit Cafeterien oder Mensen ist eine Grundvoraussetzung, um sich auf dem Campus wohlzufühlen.«

Rückkehr zur Normalität an Gießener Uni?

Abgesehen davon sieht Dittrich die Entfremdung jedoch nicht als exklusives Gießener Problem an. »Für viele Unternehmen in Deutschland ist das dauerhafte Homeoffice längst zur Normalität geworden. In Zeiten, in denen der Gang ins Büro für Beschäftigte unterschiedlichster Branchen fast eine Ausnahme ist, können wir uns wohl kaum über junge Menschen wundern, die auch gern zu Hause bleiben.«

Gleichzeitig geht Dittrich von einer Entspannung der Lage aus. »Die JLU ist ohne Wenn und Aber eine Präsenzuniversität und wird dies auch bleiben. Wir legen großen Wert auf das direkte Miteinander in lebendigen Campusbereichen und gehen davon aus, dass das auch bald wieder im gewohnten Ausmaß der Fall sein wird. Aktuell leben wir in einer Übergangszeit nach der Pandemie und brauchen wohl noch etwas Zeit für die Rückkehr zur Normalität.«

Das ist auch den Studierenden zu wünschen. Damit sie nicht nur bei der Ankunft in Gießen eine Träne verdrücken, sondern auch weiterhin beim Abschied nach Beendigung ihres Studiums. (Christoph Hoffmann)

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