Der gute Mann vom Wohnblock?

Die Vorwürfe gegen den 38 Jahre alten Gießener sind nicht ohne: Schwere Körperverletzung, Widerstand gegen Polizisten und Nötigung. Im Prozess am Landgericht Gießen begründet der Angeklagte sein Verhalten damit, dass er den Drogenhandel in dem Mehrfamilienhaus unterbinden wollte, in dem seine Mutter lebt. Einige Vorwürfe jedoch seien Lügengeschichten der Dealer, sagt er.
Ist der 38 Jahre alte Mann der gute Mann des Gießener Wohnblocks, ein Kämpfer gegen den Drogenhandel in dem Mehrparteienhaus, in dem er aufgewachsen ist und in dem noch immer seine Mutter wohnt? Oder ist er ein Mann, der sich nicht unter Kontrolle hat und gewalttätig wird? Auf jeden Fall ist der Gießener, der sich seit dem gestrigen Mittwoch vor dem Landgericht wegen des Vorwurfs der schweren Körperverletzung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und der Nötigung verantworten muss, ausgesprochen höflich. Den Vorsitzenden Richter der Neunten Strafkammer, Dr. Klaus Bergmann, und den Staatsanwalt Tom Bayer jedenfalls spricht er mit den Worten »Sehr geehrter Herr…« an. Ein guter Eindruck ist schön, aber nicht entscheidend bei der Frage, ob das Gericht seinen Worten Glauben schenken wird.
Die vier vorgeworfenen Taten sollen sich in einem Mehrparteienhaus in der Innenstadt zugetragen haben. Wie Staatsanwalt Bayer schildert, soll der Angeklagte Ende Oktober 2021 gegen 21.10 Uhr einen Freund vorgeschickt haben, damit dieser an der im achten Stock befindlichen Wohnung des Hauses klopft. Als eine Bewohnerin geöffnet habe, wollte der Angeklagte in die Wohnung eindringen. Als weitere in der Wohnung befindliche Personen ihn herausdrängen wollten, habe er der Frau mit dem Fuß ins Gesicht getreten, als diese zu Boden ging. Zehn Minuten später sei die Polizei hinzugekommen. Ein weiterer Bekannter des Angeklagten sei im Treppenhaus der Aufforderung der Polizei nicht gefolgt, die Hände aus der Hosentasche zu nehmen, und sollte deshalb fixiert werden. Der Angeklagte soll die Beamten daraufhin erst verbal aufgefordert haben, seinen Bekannten loszulassen. Dann soll er einen Polizisten geschubst haben.
Im zweiten Tatkomplex soll der Angeklagte Anfang Mai 2022 gegen 21.40 Uhr alkoholisiert von einem weiteren Bewohner der Wohnung im achten Stock des Innenstadtwohnblocks 50 Euro verlangt haben. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, habe der 38-Jährige dem Bewohner ein Messer mit einer 15 Zentimeter langen Klinge an den Hals gehalten und 20 Euro erhalten. Auf der Straße soll er dann einen weiteren Mann geschlagen und ihn mit einem Messer angegriffen haben.
Ausschweifend nimmt der Angeklagte Stellung zu den Vorwürfen. »Es gab nie ein Messer, es gab keinen Raub«, sagt er - und es habe auch keinen gezielten Tritt ins Gesicht der Frau gegeben. Die Bewohnerin und der Bewohner der Wohnung im achten Stock des Blocks und deren Besuch würden dort seit Frühjahr 2021 offen mit Drogen handeln und diese konsumieren, erzählt der Angeklagte. Er sei in dem Haus aufgewachsen, seine Mutter lebe noch immer dort, auch Familien mit Kindern. Deshalb habe er etwas gegen die Zustände unternehmen wollen. So habe er immer wieder »Kunden« der beiden Bewohner aus dem Mehrfamilienhaus geworfen - und dies dem Pärchen mitgeteilt. »Ich habe sie ausgelacht.«
Crack-Kochen in der Fanta-Dose
Ende Oktober habe er die beiden Bewohner wieder zur Rede stellen wollen. Seinen Freund habe er vorgeschickt, weil das Pärchen ihm nicht mehr die Wohnungstür öffnen wollte. Er habe versucht, in die Wohnung zu gelangen, sei aber von der Bewohnerin festgehalten worden. Als ihn zwei weitere Personen aus der Wohnung »drangsaliert« hätten, sei er beim Gerangel versehentlich auf die am Boden liegende Frau getreten. Den Polizisten, der seinen Bekannten fixieren wollte, habe er auf die Schulter gefasst und laut gebeten, aufzuhören. »Ich wollte nur deeskalieren.«
Die Tatvorwürfe aus dem Mai 2022 bestreitet der Angeklagte. Er habe bei seiner Mutter zu Abend essen wollen, alkoholisiert sei er nicht gewesen. Nachdem er in dem Wohnblock mutmaßliche Drogenkäufer verscheucht habe, sei er in den achten Stock gegangen, um den beiden mutmaßlichen Dealern von seinem »Erfolg« zu berichten. Vor der Wohnung habe er den Mann gesehen, der ihm vorwirft, ihn später geschlagen und mit einem Messer attackiert zu haben. Der habe im Flur in einer Fanta-Dose Crack gekocht. Der Angeklagte sagt, er habe diese Dose wegtreten, diese sei aber an der Hand des Mannes hängen geblieben und habe ihn verletzt. Dann, schildert der Gießener weiter, sei er in die Wohnung gestürmt, habe den Bewohner geschüttelt, angespuckt und sei wieder gegangen.
Der Angeklagte scheint nach eigenen Angaben bisher ein ungewöhnliches Leben geführt zu haben. Als ihn Richter Bergmann nach seinem Beruf fragt, antwortet er: »Familienvater«. Außerdem berichtet er von einem Informanten-Job bei der Polizei und Problemen mit einer Rockergruppe. Erst kürzlich sei er in einem Prozess am Landgericht Gießen vom Vorwurf freigesprochen worden, einer anderen Person mit einem Rasiermesser am Hals gedroht zu haben. Als Richter Bergmann sagt: »Sie sind also der gute Mann« des Wohnblocks, antwortet der Angeklagte: »Ich möchte hier doch keine Märchengeschichten erzählen.«
Der Prozess wird fortgesetzt.