»Der Faschismus ist unterschätzt worden«

Gießen (seg). In den frühen Morgenstunden des 2. Mai 1933 stürmten Mitglieder der SA die Schanzenstraße 18. Die Nazis besetzten das Haus des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und läuteten nicht nur in Gießen, sondern durch ähnliche Angriffe in ganz Deutschland an diesem Tag, ein vorläufiges Ende der freien Gewerkschaften ein. 90 Jahre später, am Dienstag, dem 2.
Mai 2023, trafen sich rund 30 Gewerkschaftsmitglieder und Interessierte für ein Gedenken.
Gewerkschafter ins KZ verschleppt
Matthias Körner, Geschäftsführer des DGB Mittelhessen, sagte zu Beginn, dass aus der Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nazis zwei Aufgaben erwachsen. Eine ergehe an die Gesellschaft, stets wachsam zu bleiben. »Denn es war nicht der erste Moment, in dem klar wurde, dass es nicht gut aussieht für die Demokratie.« Eine zweite Aufgabe ergehe an die Gewerkschaften, die »sich mehr mit Abgrenzungen gegeneinander beschäftigt hatten, als mit dem Kampf gegen den Faschismus.« Solidarität zueinander sei deswegen die Lehre, die gezogen werden müsse.
»Der Faschismus ist unterschätzt worden«, sagte Klaus Zecher, DGB-Kreisvorsitzender des Landkreis Gießen mit Blick auf die damaligen Gewerkschaften. Noch einen Tag vor dem Angriff durch die SA seien die Mitglieder des ADGB zusammen mit den Nazis am Tag der Arbeit durch die Straßen marschiert. »Man glaubte, der Faschismus sei nur eine vorübergehende Sache.«
Die Folgen dieser Unterschätzung waren schließlich für viele Gewerkschafter verheerend. In Gießen wurden sie am 2. Mai »mit massiver Gewalt aus dem Gewerkschaftshaus geprügelt«, wie Zecher sagte. Anschließend wurden sie in die Gaststätte »Trink aus« im Seltersweg gezwungen, dort misshandelt und einige von ihnen, wie zum Beispiel Fritz Gerlach oder Albin Mann, schließlich für zwei Monate in das KZ Osthofen verschleppt. Das Vermögen des ADGB wurde beschlagnahmt und der wenige Tage später, am 10. Mai, von den Nazis neu gegründeten Deutschen Arbeitsfront (DAF), einem Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, überschrieben.
Das ursprüngliche Haus des ADGB in der Schanzenstraße 18, das die Gewerkschaften 1907 gekauft hatten - bis dahin befand sich an dieser Stelle »Lony’s Bierkeller« - wurde bei der Bombardierung Gießens am 6. Dezember 1944 bis auf die Kellerräume zerstört und nach dem Krieg wieder neu aufgebaut. Heute befindet sich vor dem Gebäude eine Erinnerungs-Plakette im Boden, auf welche die Gewerkschafter beim Gedenken am Dienstag rote Nelken niederlegten, bevor eine Schweigeminute abgehalten wurde.
Zuvor ermahnte Zechner noch: »Der Faschismus bleibt eine Gefahr.« Das mache nicht nur Hanau deutlich, sondern auch der versuchte Brandanschlag am AK44 in Gießen Ende April.
Eine größere Gedenkveranstaltung kündigte der DGB für den 31. Mai an. Dann soll am Kreuzplatz eine szenische Lesung Eindrücke von damals wieder aufleben lassen.
