Demos beanspruchen Polizei stark

Auch 2022 ist die Zahl der Straftaten im Bereich des Polizeipräsidiums Mittelhessen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Leicht gesunken hingegen ist die Aufklärungsquote. Dennoch werden in dieser Region mehr Fälle gelöst als in anderen hessischen Polizeipräsidien.
Der Leiter der Polizeistation Gießen-Nord, Mark Weiershausen, hat die Fähigkeit, Sachverhalte leicht verständlich herunterzubrechen. Viele Krisen wie Corona oder der Überfall Russlands auf die Ukraine, sagt er beim Pressegespräch im Polizeipräsidium (PP) Mittelhessen, würden früher oder später Thema auf dem Berliner Platz oder auf dem Kirchenplatz in Gießen. Das unterstreicht die Zahl der Kundgebungen im Gebiet des PP Mittelhessen, das die Kreise Gießen, Wetterau, Marburg-Biedenkopf und Lahn-Dill umfasst. Gab es 2021 noch 400 Demos, waren es 2022 rund 1300, die die Polizei begleiten musste, sagt der Abteilungsdirektor beim PP Mittelhessen, Manfred Kaletsch, bei der Vorstellung der Kriminalstatistik für 2022. 750 Demos hatten einen Corona-Bezug. Der Höchstwert an einem Tag: 47 Kundgebungen. So würden viele Kräfte gebunden, betont Kaletsch. Gleichzeitig, sagt Polizeipräsident Bernd Paul, übernehme die Polizei Aufgaben, für die eigentlich andere Behörden zuständig seien. Er nennt Wachtmeisterdienste für die Justiz oder Aufgaben, die von Jugendämtern erledigt werden müssten. Zukünftig, sagt er, müsse die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen verbessert und verstärkt und an die jeweiligen Zuständigkeiten erinnert werden.
Denn: Die Polizeikräfte werden gebraucht. Und mal eben im Vorbeigehen neue Beamte zu schnitzen, klappt nicht so einfach. Das zeigt der Blick in die Kriminalstatistik für 2022. Im Zuständigkeitsbereich des PP Mittelhessen mit 43 000 Quadratmetern Fläche und 1,2 Millionen Einwohnern kam es zu 44 148 Straftaten ohne ausländerrechtliche Verstöße, ein leichter Anstieg im Vergleich zu 2021 (43 707 Fälle). Gleichzeitig sank die Aufklärungsquote von 66,6 auf 62,5 Prozent. Trotzdem, betont Paul, sei Mittelhessen noch immer Spitzenreiter im Vergleich der sechs anderen Flächenpräsidien. Der Hessen-Durchschnitt liegt bei 60,8 Prozent.
Spitzenreiter im Vergleich der mittelhessischen Kreise ist Gießen. Dort gab es 2022 insgesamt 14 142 Straftaten (2021: 13 840); davon entfallen 9014 auf die Stadt Gießen. Die Aufklärungsquote sank von 68,1 Prozent 2021 auf 66,3 Prozent. Auffällig für Gießen ist die im Vergleich zu den anderen Kreisen hohe Häufigkeitszahl. Dieser Wert gibt die Straftaten pro 100 000 Einwohner im Jahr wieder und ist ein Indiz für die Sicherheitslage. Dort liegt der Wert für Gießen bei 5183, was weniger ist als der Landesdurchschnitt von 5417, aber deutlich höher als der Wert für Marburg-Biedenkopf mit 4191 oder für die Wetterau mit 3459. Erklären lässt sich dies sicherlich mit der Lage und Struktur Gießens, einer Kleinstadt mit Großstadtproblemen.
Bei den Deliktfeldern sticht die häusliche Gewalt für Stadt und Landkreis Gießen hervor. Hier stieg die Zahl von 494 Taten 2021 auf 690 2022. Weiershausen bringt den Anstieg mit Kampagnen der Polizei in Verbindung, mit denen öffentlichkeitswirksam über viele Kanäle auf das mit Scham besetzte Thema aufmerksam gemacht worden sei. Die Bereitschaft, den Partner anzuzeigen, scheint gestiegen zu sein. Aber die Dunkelziffer, betont Kaletsch, sei in diesem Deliktfeld weiterhin sehr hoch. Die Aufklärungsquote liegt bei 99 Prozent.
Dunkelziffer bei Crack-Konsumenten
Dass die Zahl der Gewaltdelikte gerade bei den schweren Körperverletzungen zugenommen hat, nennt Kaletsch »besorgniserregend«. In Stadt und Landkreis Gießen kam es 2022 zu 655 solcher Taten (2021: 588). Davon wurden 444 im Stadtgebiet verübt. Kaletsch bringt deshalb Waffenverbotszonen ins Gespräch, in denen die Polizei zu bestimmten Uhrzeiten, an Wochenenden sowie vor und an Feiertagen Personen leichter kontrollieren kann. Die Aufklärungsquote in diesem Deliktfeld liegt bei 85 Prozent.
Von einer hohen Dunkelziffer geht die Polizei bei den Crack-Konsumenten aus. Es gebe zwar keine gefestigten Szenestrukturen, »aber wir werden diesen Bereich weiter beobachten«, sagt Mathieu Wolf, stellvertretender Leiter der Polizeidirektion. Die Zahl der Rauschgiftdelikte in Stadt und Kreis stieg minimal von 1005 2021 auf 1015 2022. Bei den meisten Delikten ging es um Cannabiskonsum.
Deutlich zugenommen haben im vergangenen Jahr Sexualstraftaten. Wurden hessenweit 2021 noch 2347 Fälle vom Landeskriminalamt an die Flächenpräsidien übermittelt, waren es im vergangenen Jahr 5162. Hauptursächlich für die gestiegenen Fallzahlen vor allem bei Darstellungen von Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sei die Pandemie, sagt Wolf. Menschen seien monatelang im Homeoffice gewesen und hätten öfter die Möglichkeit gehabt, sich auf entsprechenden Portalen im Internet zu bewegen. Hinzukommt: Je mehr Ermittlungserfolge die Polizei hat, desto mehr weitere Fälle tun sich auf. Deshalb ist die Besondere Aufbauorganisation (BAO) FOKUS auf über 40 Beamte erweitert worden. In Mittelhessen hat die Polizei 2022 insgesamt 442 Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Das sind 1,4 Durchsuchungen am Tag.
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