Das Unaussprechliche bezeugen

Gießen . Noch leben sie, die letzten Zeugen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Noch können sie mit ihrer Lebensgeschichte die Erinnerung an das Geschehene wachhalten. Doch was passiert, wenn auch der letzte Zeitzeuge verstummt? Wer erinnert uns - und wie erinnern wir unsere Geschichte?
In dieser von Experten post-memorial genannten Phase werden bleibende Zeugnisse wie die Schriften der Überlebenden eine bedeutende Rolle einnehmen. Die Online-Datenbank »Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur 1933 bis 1949«, in Kooperation zwischen der am Institut für Germanistik angesiedelten Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Universitätsbibliothek Gießen entstanden und am Mittwochabend in der UB vorgestellt, leistet einen Beitrag zu dieser neuen Erinnerungskultur, indem sie die frühen deutschsprachigen Werke der Holocaust- und Lagerliteratur bibliographisch erfasst und, versehen mit Inhaltszusammenfassungen, Autorbiographien und Werkgeschichten, ins Netz stellt.
Viele Titel sind dort, sofern urheberrechtlich zulässig, auch im Volltext einsehbar und Nutzer haben die Möglichkeit, mittels neuer Funktionen Daten etwa aufgeschlüsselt nach Orten aufgelistet zu bekommen. »Die Werke haben uns viel zu erzählen«, zeigte sich der Leiter der Gießener Arbeitsstelle, Prof. Sascha Feuchert, überzeugt und verwies auf die Bedeutsamkeit von Institutionen wie Schulen und Bibliotheken für das Erinnern.
»Doppeltes Zeugnis«
Seine Kollegin Dr. Charlotte Kitzinger erklärte, dass insbesondere die frühen Texte einen hohen historischen Quellenwert als gewissermaßen doppeltes Zeugnis besitzen, weil sie zum einen in unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Nähe zu den Geschehnissen verfasst wurden und andererseits viel über den Entstehungskontext aussagen. Eine breite Rezeption blieb den meisten Werken nämlich versagt, auch weil im frühen Nachkriegsdeutschland kein tieferes Interesse für die Opfer des NS-Regimes bestand. Oftmals wurden die eigenen, kriegsbedingten Entbehrungen mit dem Leid der Verfolgten gleichgesetzt.
Der Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft versuchten viele Autoren durch Hervorhebung der Authentizität ihrer Erinnerungen entgegenzuwirken. Zudem entschieden sich Verlage häufig für eine optisch auffällige Aufmachung ihrer Bücher. Doch meist blieben die Werke weitgehend unbeachtet, weswegen die Gießener Datenbank ihnen nun die Möglichkeit geben möchte, Teil des Erinnerungsdiskurses zu werden.
Ein Gegenbeispiel zu den oft vergessenen Werken stellt Viktor Frankls Werk »… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager« dar. Das 1946 erschienene Buch des österreichischen Psychiaters wurde ein internationaler Bestseller. Frankl versucht darin, aus seinen subjektiven Erfahrungen - als Jude überlebte er vier Konzentrationslager, verlor jedoch beinahe seine ganze Familie - allgemeine Schlussfolgerungen über menschliches Verhalten in Extremsituationen abzuleiten.
Roman Kurtz vom Gießener Stadttheater las Auszüge aus Frankls Werk vor. Einfühlsam gelang es dem Schauspieler, den in seiner Nüchternheit brutalen Text zum Leben zu erwecken. Frankl identifiziert drei Phasen im Leben eines Lagerüberlebenden, wovon allein die erste des Aufnahmeschocks bereits mit einer völligen Illusionsfreiheit einhergeht. Um auch nur die Chance auf ein Überleben zu haben, muss mit all dem, was einen zuvor ausgemacht hat, abgeschlossen werden: »Ich mache einen Strich unter mein ganzes bisheriges Leben«, heißt es bei Frankl, bevor die neue, grausame Normalität des Lagerlebens überhaupt begonnen hat.
Interessierte können sich die Ergebnisse des Projekts auf www.fruehe-texte-holocaustliteratur.de ansehen und die neuen Funktionen nutzen.
Benedikt Karl