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Das Gemüse ist der Chef

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Beim Gießen in den Parzellen »Auf der Hardt«: Georg Rieck (l.) und Christian Lugerth. © Red

Gießen (clg). Schon im zweiten Jahr bestehen nun die Saisongärten »Auf der Hardt«. Im Gespräch mit Georg Rieck, einem der Mitbegründer und Mitglied des Gießener Ernährungsrates (Ergi) und einem, der nun schon das zweite Jahr sein Gemüse dort oben anbaut, wird eine kleine Zwischenbilanz gezogen - auch im Hinblick auf den diesjährigen extremen Trockensommer.

Der Blick des Gärtners zum ewig blauen Himmel ist dieser Tage ein gänzlich anderer als jener des - sagen wir - gemeinen Stadtfestbesuchers, der sich über ein sonniges Wochenende uneingeschränkt freut.

Sollte sich die Trockenheit in den nächsten Jahren fortsetzen, wird es Gemüseanbau im Freien in dieser Art nicht mehr geben können, meint Riek. Man müsste an andere Methoden denken, zum Beispiel an Parzellen, die mit dicken Mulchschichten bedeckt sind, wobei die Pflanzen aus dort eingezogenen Schlitzen wachsen. So könne man die Verdunstung des Wassers reduzieren. Man experimentiere schon mit Feldern, die unter Agri-Fotovoltaikanlagen angelegt werden. Doch noch heißt es in diesen Tagen, Unmassen von Gießkannen zu füllen, zumindest alle zwei Tage, am besten am Abend oder früh morgens. Die Nutzung der zwei großen Wasserbecken sowie Gartengeräte, organisches Düngematerial, Eimer, Samen und Setzlinge sind in der Pacht von 140 Euro für sieben Monate inbegriffen. Jede Parzelle hat 30 Quadratmeter. Darauf ist einiges vorgepflanzt wie Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln, Erbsen, Bohnen, Wirsing. Es bleibt aber genügend Platz für eigenes, etwa diverse Tomatensorten, Paprika, sogar Mais und Erdbeeren.

Zwei Stunden sind schnell vergangen

Nimmt man die Geschichte ernst, ist es ordentlich Arbeit, was mancher Parzellenbesitzer nach der Euphorie der ersten Wochen erstaunt zur Kenntnis nimmt. Zwei Stunden sind schnell vergangen beim Gießen, Hacken, Jäten, Ernten und Erfahrungen austauschen. Rieck beschäftigt sich seit 40 Jahren mit dem Anbau - und kein einziges Jahr sei in all der Zeit wie das andere gewesen. So wachsen dieses Jahr Tomaten »wie wild«, im Gegensatz zu 2021. Dafür schaffen es Radieschen oder Karotten kaum in dem steinigen Boden. Da muss einige Stunden lang gesammelt werden, und dennoch scheinen sich die Steine nächtens zu vermehren und morgens an die Oberfläche zu wandern. Trotzdem erstaunlich, wie viel da oben wächst. Gerade im Juli - dieses Jahr war alles Wochen früher erntereif als letztes Jahr - kam man kaum hinterher bei der Ernte der Bohnen, Tomaten, Kartoffeln, des Mangolds, der Lauchzwiebeln und der diversen Salate. Dann ist das Gemüse der Chef und fordert Zubereitung oder ordentliche Konservierung. Und zwar unverzüglich. Auch das will gelernt sein und kostet Zeit. Aber es führt vor Augen, wie viel Arbeit in Lebensmitteln steckt, die auch noch höchst schmackhaft sind. Ein im doppelten Sinne gesunder Lernprozess, der die eigene Schnäppchenmentalität in Frage stellt und ein Bewusstsein dafür schafft, dass Ernährung durchaus politisch ist. Es macht Freude, den Mitgärtner, der die Tagesernte in den Armen hält, zu fragen, was es denn bei ihm heute Abend zu essen gibt. Oder man folgt einem der Tipps von Silvie Drahorad vom Ergi, die die Gärtner per E-Mails betreut, regelmäßig Hinweise in Sachen Düngung, Bodenbearbeitung, Ernte und Ungezieferbekämpfung gibt und eben auch mal schöne Rezeptideen versendet.

Was man von der Parzelle lernen kann

Doch der Wahrheit die Ehre: Auch die Parzellenbesitzer stellen einen Querschnitt menschlicher Herangehensweisen dar. Einiges an Gemüse hängt reif und ungeerntet in der prallen Sonne. Da ist die Zucchini bei Instagram und Facebook gelandet statt in der Pfanne oder im Einmachglas. Oder man hat unterschätzt, dass Gartenarbeit eben auch Arbeit ist. Zwar haben sich manche in WhatsApp-Gruppen zusammengetan und helfen sich beim Gießen, doch mancher Parzelle sieht man es an, dass Urlaubszeit ist. 33 Parzellen gab es letztes Jahr, für diese Saison wurde das Angebot aufgrund der großen Nachfrage verdoppelt. An eine weitere Vergrößerung ist erst einmal nicht gedacht.

Und lohnt sich das alles? Wie groß die Ersparnis in Sachen Lebensmitteleinkäufe ist, man wird es sehen. Das Wichtigste jedoch, was man vom Gemüse lernen kann: Geduld. Ausdauer. Wertschätzung. Und es schmeckt einfach besser als in Plastik eingepacktes Massengemüse.

Zum Schluss noch eine Herzensangelegenheit von Georg Rieck: Das Dach der Schneiderhalle in den benachbarten Hardtgärten des IJB sammle Unmengen Wasser - vorausgesetzt, es regnet. Aber auch das nütze nichts ohne Zisternen. Wenn die gebaut würden - das ist eine Forderung des Ernährungsrates an die Stadt - könnte in einem Jahr mit normaler Niederschlagsverteilung ein erheblicher Teil des Gießwassers mit diesem Regenwasser gedeckt werden.

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