Corona »letzter Auslöser« für Otto-Rückzug in Gießen

Die Stadt Gießen ist geschockt: Der Otto-Konzern wird kein 300-Millionen-Logistikzentrum im ehemaligen US-Depot bauen. Das Unternehmen nennt dafür zwei Gründe.
Große Ansiedlungen, neue Arbeitsplätze, fette Gewerbesteuereinnahmen: Aus dem Gießener Wirtschaftsleben kamen in den letzten Jahren viele gute Nachrichten. Die, die am Freitag in der Telefonkette zwischen Hamburg, Lahnau und Gießen weitergegeben wurde, war richtig schlecht. Am Ende der Kette informierte Bürgermeister Peter Neidel am Vormittag die Presse: »Wir haben heute Morgen eine traurige Nachricht erhalten: Das Unternehmen Otto baut nicht in Gießen.«
Die momentane, durch die Verbreitung des Coronavirus entstandene wirtschaftliche Unsicherheit sei wohl »der letzte Auslöser« gewesen, sagte Neidel. Die Nachricht sei ein »Schock« für die Stadt. »Wir hatten uns von dieser Ansiedlung viele neue Arbeitsplätze und Gewerbesteuereinnahmen versprochen. Das ist richtig bitter; die Absage trifft uns hart«, sagte Neidel.
Dass Otto nicht nach Gießen kommt, hatte das Unternehmen zuvor der Gießener Revikon GmbH mitgeteilt, der das frühere Militärareal gehört. Seit Monaten laufen dort die Erschließungsarbeiten für das »Logistikzentrum Gießen«. Otto wollte 300 Millionen Euro investieren und in den nächsten Jahren bis zu 1800 Arbeitsplätze auf der 35 Hektar großen Fläche schaffen.
Laut Planungsdezernent Neidel hatte Otto eine letzte Frist zum Rücktritt von dem Vorhaben genutzt, die nach der Veröffentlichung des Bebauungsplans galt. Der Plan »Alter Flughafen II« war bereits rechtskräftig und wurde vor wenigen Tagen von der Stadt veröffentlicht. Dies bestätigte Revikon-Geschäftsführer Daniel Beitlich: »Die Verträge ließen die Exit-Möglichkeit durch eine Konzernentscheidung über das Projekt zu. Das ist so üblich bei Investitionen in dieser Größenordnung. Diese Option konnte Otto im April noch ziehen.«
»Wir wissen natürlich, was für ein Donnerschlag das ist«, sagte Otto-Sprecherin Viktoria Rüpke. Doch man habe die geplante Ansiedlung noch einmal wirtschaftlich genau durchkalkuliert und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sich »das Vorhaben nicht rechnet, dass die Wirtschaftlichkeit nicht vorhanden ist«.
Der Grund: Die Rahmenbedingungen für die Ansiedlung hätten sich in den letzten Wochen und Monaten schon vor der Corona-Krise verändert; es hätten sich »viele ungeplante Mehrkosten« ergeben, sagte Rüpke. Welche ungeplanten Mehrkosten dies sind, wollte die Sprecherin nicht verraten. »Das sind Interna, die wir nicht preisgeben, um unsere Partner und Stakeholder zu schützen.«
Zusätzlich sei nun aber auch noch die Corona-Pandemie hinzugekommen. In dieser Koinzidenz mit der Pandemie habe man den Standort Gießen jetzt aufgegeben. »An der Zusammenarbeit mit der Revikon und mit der Stadt Gießen hat es aber definitiv nicht gelegen, das war immer ein sehr gutes, partnerschaftliches Verhältnis«, betonte die Otto-Sprecherin. Ihr Konzern werde nun nach einem Plan B Ausschau halten: Entweder werde man die für Gießen vorgesehenen Aufgaben konzernintern umverteilen oder sich nach Standortalternativen umsehen. Dies werde man aber erst dann machen, wenn sich die Pandemie-Lage beruhigt habe.
Für Revikon-Chef Beitlich kam die Absage auf den letzten Metern überraschend. »Aber wir haben Corona. Nichts gilt mehr im Moment. Das Klima ist düster, niemand hat mehr Vertrauen in die Zukunft, die Stimmung ist wackelig«, sagte Beitlich. Gleichwohl sieht er Wirtschaft, Politik und Medien in der Verantwortung, Entschlusskraft und Optimismus auszustrahlen. »Wir werden an diesem Projekt mit Vollgas weiterarbeiten«, kündigte der Revikon-Chef an. Gemeinsam mit der Stadt werde man nach neuen Investoren Ausschau halten. »Die Fläche ist super und nicht schlechter geworden.« Vorzuwerfen habe sich die Revikon nichts. »Mein Partner Martin Bender hat dort in letzter Zeit einen Traumjob gemacht.« Auch die städtischen Behörden hätten eine großartige Arbeit abgeliefert. »Das hat uns Otto auch so gesagt«, fügte Beitlich hinzu.
Bürgermeister Peter Neidel tun auch die eigenen Mitarbeiter leid, die unglaublich viel Arbeit in diese Ansiedlung gesteckt hätten. Auch für sie sei die Absage »sehr enttäuschend«. Der auf Otto zugeschnittene Bebauungsplan ist aus Neidels Sicht hinfällig. Aber auch der Planungsdezernent gab sich kämpferisch: »Es muss weitergehen.«