Corona in Gießen: Mieter und Vermieter an einen Tisch

Dass große Modefirmen und Handelsketten Mietzahlungen vorübergehend einstellen, sorgt für Empörung. Gießener Protagonisten appellieren an die Vernunft von Mietern und Vermietern.
Heinz-Jörg Ebert weiß, wovon er spricht. Als Chef des Schuhhauses Darré ist Ebert Einzelhändler, als Vorsitzender des Business Improvement District (BID) Seltersweg Mittler zwischen Eigentümern und Gewerbetreibenden, zudem ist er in der Gießener Fußgängerzone als Mieter und Vermieter aktiv. »Ich habe durchaus Verständnis, dass es Einzelhändler gibt, für die derzeit die Miete ihrer Geschäfte ohne Umsatz eine unglaubliche Belastung ist. Aber Mietzahlungen einfach einzustellen, ist eine unangemessene Willkür und weit davon entfernt, diese Krise wirklich gemeinsam durchzustehen«, sagt der Gießener. Gerade jetzt gelte es, gemeinsam Lösungen zu finden. Dass womöglich die Ungenierten die Kasse plünderten, dürfe gerade jetzt, wo Solidarität das Gebot der Stunde sein sollte, nicht zur Richtschnur werden, betont Ebert.
Dass am vergangenen Wochenende große Modefirmen und Handelsketten wie H&M, Adidas, Deichmann oder Douglas - mit Ausnahme von Adidas alle in der Gießener Fußgängerzone vertreten - unter Berufung auf ein Gesetz der Bundesregierung, die Unternehmen in Finanznot helfen will, angekündigt hatten, aufgrund der Corona-Krise Mietzahlungen für Geschäfte in Innenstädten zumindest vorübergehend einzustellen, hatte im ganzen Land für Empörung gesorgt. Auch im Seltersweg. »Hier haben Eigentümer in den letzten Jahren viel Geld investiert, Fassaden neu gestaltet, Infrastruktur geschaffen, um für ihre Mieter eine Basis für einen guten Einzelhandel-Standort zu legen«, sagt Ebert. Dass der Seltersweg im Vergleich mit anderen Innenstädten stabil dastehe, habe mit harter Arbeit hinter den Kulissen zu tun. »Und diese Arbeit haben in der Regel nicht die Einzelhandelsketten geleistet, sondern deren Vermieter vor Ort«, sagt Ebert und erklärt damit, warum die Entscheidung einiger großer Ketten, mindestens die April-Miete zu stunden, für Verärgerung bei ihm sorgt. Zahlreiche Vermieter seien gerade in Gießen primär privat haftende Familien und nicht Fond- oder Versicherungsgesellschaften. »Sie haben aufgrund permanenter Investitionen in die Gebäude hohe Belastungen, die sie tilgen müssen.«
Nach dem ersten Aufschrei ruderten einige Unternehmen schnell wieder zurück. »Wir haben nie gesagt, dass wir keine Mieten mehr zahlen. Wir haben unsere Vermieter gebeten, unsere Mieten zu stunden«, sagte zum Beispiel Konzernchef und Eigentümer Heinrich Deichmann der Nachrichtenagentur dpa. »Falls ein Vermieter nicht in der Lage ist, eine Stundung wirtschaftlich zu verkraften, werden wir die Miete zahlen.« Gleichzeitig ließ er allerdings auch keinen Zweifel daran, dass er angesichts der staatlich angeordneten Ladenschließungen Zugeständnisse der Vermieter erwartet. »Wir werden die Vermieter bitten, einen Teil der Mietschäden zu übernehmen.«
Jochen Ahl von der Imaxx-Gruppe verwaltet einige Objekte mit Einzelhandelseinheiten und betreut zudem Kunden, die solche Immobilien besitzen. »Dass ein deutsches Dax-Unternehmen nach zehn Tagen Ladenschließung schon keine Miete mehr zahlen will, ist höchst verwerflich und mit einem Dammbruch am Immobilienmarkt gleichzusetzen«, sagt Ahl. Eine solche Vorgehensweise führe zum »Kollaps des gegenseitigen Vertrauens zwischen Mieter und Vermieter. »Das hat Signalwirkung. Warum soll dann überhaupt noch jemand Miete zahlen«, fragt Ahl. Er denkt noch einen Schritt weiter. Es bestehe auch die Gefahr für Banken, dass dadurch Immobilienfinanzierungen ausfallen.
Der Immobilienexperte lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass er überzeugt davon ist, dass es angesichts der Corona-Krise auch nicht ohne die Solidarität der Vermieter geht. Keiner sollte in der derzeitigen Situation so ignorant sein und in jedem Fall auf die Mietzahlungen bestehen. »Man muss mit jedem Mieter den Einzelfall besprechen. Auch wir sind mit jedem im Gespräch und suchen anhand von Bonität und Geschäftsmodell entsprechende Lösungen«, sagt Ahl.
Dies könnten seiner Meinung nach Stundungen, Mietminderungen und im Ausnahmefall Mietverzicht sein. »Kleinen Gewerbebetrieben muss sofort geholfen werden«; sagt Ahl. Da sei nicht nur der Staat, sondern auch Immobilienbesitzer am Zug. Wenn aber ein Millionär schon am ersten Tag der Ladenschließung komme und keine Miete zahlen wolle, habe er kein Verständnis. Auch das sei in den letzten Tagen in Gießen bereits passiert. Die Corona-Krise dahingehend auszunutzen, sei verwerflich. In einer Notsituation wie dieser gehe es nur gemeinsam.