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Claus Leggewie: »Putin hat sich überhoben«

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Von: Kays Al-Khanak

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Putin, sagt Claus Leggewie, sei »ganz und gar weltanschaulich getrieben«. © DPA Deutsche Presseagentur

Der Gießener Politikwissenschaftler Claus Leggewie glaubt, dass Putins Krieg gegen die Ukraine vor allem ideologische Gründe hat - und betont: Putin habe sich sein eigenes Grab geschaufelt.

Herr Leggewie, manche glauben, Putin handele mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine irrational, sei abgeschottet und vermutlich auch verrückt. Ist diese These nicht zu einfach?

Wladimir Putin zeichnet eine eiskalte Vernunft aus. Sein Ziel, die Wiederherstellung eines russischen Machtimperiums, verfolgt er seit seiner Machtübernahme mit großer Konsequenz und Vorausschau. Putin ist ganz und gar weltanschaulich getrieben. Von einer »eurasischen Ideologie«, die sich frontal gegen die demokratischen Werte und politische Kultur des Westens stellt.

Was könnte das langfristige Ziel des Überfalls auf die Ukraine sein? Russland, so die Einschätzung mancher Medien, sei durch den Angriff nicht stärker, größer oder bedeutender geworden. Im Gegenteil.

Der Eroberung der Ukraine, in Putins Augen eine Rückeroberung, sollen weitere Annexionen und Arrondierungen folgen. Russland wird dabei eine imperiale Überdehnung erleben und scheitern. Putin hat sich überhoben.

Gibt es ein ideologisches Fundament für das Verhalten Putins?

Die schon erwähnte geopolitische Fantasie eines »Eurasien«, das von Mitteleuropa bis zum Pazifik reicht und sich radikal-reaktionär von liberalen Ideen der aufgeklärten Moderne abhebt.

Welche Rolle spielt dabei Alexander Dugin, von der taz kürzlich »ideologischer Großmeister der Neuen Rechten« bezeichnet?

Dieser selbsternannte Philosoph, ursprünglich ein antisemitischer Nationalbolschewist und eigentlich ein typischer Scharlatan, war mit seiner »Vierten Politischen Theorie« in den 2010er Jahren eine wichtige Quelle und ein Vordenker Putins. Er knüpft an die Konservative Revolution der 1920er und 1930er Jahre, vor allem an Carl Schmitt und Martin Heidegger an, Vordenkern des Nationalsozialismus.

Steht diese Verbindung nicht im Gegensatz zu Putins Behauptung, die Ukraine »entnazifizieren« zu wollen?

Man darf auf solche Begriffsverwirrungen nicht hereinfallen. Jeder Aggressor, auch die Choleriker der Querdenker-Bewegung, macht heute Anspielungen auf den Faschismus - und sind dabei oft selber Faschisten.

Seit wann handelt Putin nach seiner Doktrin? 2002 sagte er noch im Bundestag, die europäische Integration werde nicht nur unterstützt, sondern würde in Russland auch mit Hoffnung gesehen. War das alles Schauspiel? War »der Westen« zu naiv?

Naiv ist höchstens, dass wenn der Westen sich in Anführungszeichen setzt und seine Normen und Institutionen verhökert. Diese fahrlässige oder grundsätzliche Kritik am Westen ist genau das Ziel der Putinschen Propaganda gewesen. Mag sein, dass er zu Beginn seiner Präsidentschaft noch von »Westlern« umgeben war. Aber zu keiner Zeit hatte er Anlass oder gar das Recht, von einer Zurückstellung seines Landes zu sprechen, wie im Westen immer wieder behauptet wurde. Geschweige denn, derart brutale Konsequenzen zu ziehen.

Ist die Ideologie und letztlich auch der Krieg Mittel zum Zweck, um im eigenen Land mögliche Demokratiebestrebungen im Keim zu ersticken und die eigene Macht zu sichern? Der Kreml schränkt ja aktuell in Rekordzeit die Meinungsfreiheit im Land weiter ein.

Das ist der Kern der Sorge Putins: Dass auch Russland in den Sog der demokratischen Farben-Revolutionen hineingerät, die sich in der Ukraine, zuvor in den ehemaligen Satellitenstaaten ereignet haben, bis zurück zum Prager Frühling 1968.

Was bedeutet das ideologisch begründete Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine für die benachbarten Länder und die ehemaligen Sowjetrepubliken?

Sie ist lebensgefährlich, denn der Angriffskrieg zeigt, wozu das Regime jederzeit und überall fähig ist und welches Risiko die legitime Selbstverteidigung bietet - bis hin zu einem nuklearen Holocaust.

Welche Rolle sollte Deutschland mit seiner historischen Verantwortung mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg in diesem Konflikt spielen?

Aus der deutschen Geschichte folgt nicht, sich aus Konflikten herauszuhalten. Wir müssten am besten wissen, wie wichtig der Widerstand gegen totalitäre Diktaturen ist und wie wenig diese sich von Appeasement beeindrucken lassen. Die antifaschistische Parole »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!« hieß doch wohl, dass Deutsche keinen Angriffskrieg und Genozid mehr führen wollten, nicht, dass man das andernorts einfach geschehen lassen muss. Diese Sorte Pazifismus ist unhistorisch, verantwortungslos und heuchlerisch.

Müssen wir uns langfristig auf eine Konfrontation zwischen Liberalismus und Autoritarismus, zwischen Westen und Osten einstellen? Und welche Rolle spielt China dabei?

Entscheidend sind nicht Himmelsrichtungen - auch »östliche« Demokraten kämpfen gegen »westliche« Diktatoren. Es geht um nicht weniger als die Selbstbehauptung der Demokratie weltweit - und seit 2010 ist sie weltweit auf dem Rückzug. China ist nur der nächste und größere Problemfall, an dem man die Erkenntnis, dass man sich einem Putin nicht an den Hals werfen darf, auch für Xi Jinping gilt, der einen Genozid an den Uiguren begeht, jede demokratische Bewegung im Keim erstickt und die »Wiedereroberung« Taiwans im Sinn hat.

Manche hoffen nun auf einen Sturz Putins. Als wie realistisch schätzen Sie dieses Szenario ein? Und vor allem: Wer könnte ihm nachfolgen?

Putin hat sich in der Ukraine schon sein Grab geschaufelt, und dabei reißt er leider Tausende von unschuldigen Menschen mit in den Tod. Da er oppositionelle Regungen und alternative Positionen brutal unterdrückt hat, fällt es schwer, sich eine Nachfolge genau auszumalen. Langfristig bleibt ein demokratisches, auf echte Kooperation bedachtes Russland die einzige Hoffnung. Bis dahin müssen wir alles tun, um die Ukraine vor der totalen Katastrophe zu bewahren. Wir verteidigen dort auch unsere Freiheit.

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_090514_4c_1 © Red

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