Wohnungsbau in Gießen: Boom ist vorbei, aber Pipeline ist voll

Fast 900 Bauanträge, fast 800 fertiggestellte Wohnungen: So bildete sich vor knapp zehn Jahren der Boom beim Wohnungsbau in Zahlen ab. Doch dieser Boom ist vorbei.
Gießen - Ellenlange Tagesordnungen, stundenlange Beratungen, Bebauungspläne in allen Bearbeitungsstadien: So liefen einige Jahre lang die Sitzungen des Gießener Bau- und Planungsausschusses ab. »Es gab mal eine Sitzung, da hatte ich zwölf Bebauungspläne auf der Tagesordnung«, erinnert sich Planungsdezernentin Gerda Weigel-Greilich an die Jahre zwischen 2014 und 2016 zurück. Als der Bauausschuss im Februar zusammentrat, stand kein einziger Plan zur Beratung an. Das wird sich zwar wieder ändern, aber es beschreibt einen Trend. »Nach der Boomzeit vor acht Jahren sind wir auf dem Normalniveau vor 2014 angekommen«, stellt Dr. Holger Hölscher fest, der Leiter des Planungsamts.
Neben der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, die durch steigende Preise und Kaufzurückhaltung geprägt ist, ist ein spezifisch lokaler Grund das Fehlen von Flächen. Es gibt auf der Gießen-Karte kaum noch weiße Flächen, und in den Außenbereich »wollen wir nicht gehen«, betont die Grünen-Stadträtin. Der Boom beim Wohnungsbau habe sich fast ausschließlich auf Recyclingflächen wie Bergkaserne, Güterbahnhof, Schlachthof oder dem Busdepot am Aulweg abgespielt. »Was wir in den letzten 15 Jahren an Wohnungsbau geplant haben, war zu 90 Prozent Innenverdichtung. Wir haben kaum etwas versiegelt«, sagt Hölscher.
Wohnungsbau in Gießen: 2400 Wohnungen kommen noch
Trotzdem ist in Gießen an geplanten oder in Umsetzungbefindlichen Wohnprojekten noch allerhand in der Pipeline. Die lange Liste, die Hölscher präsentiert, enthält fast 40 Projekte, die sich auf immerhin fast 2400 Wohnungen summieren, von denen noch keine einzige bezogen worden ist. Das Angebot reicht von kleineren Objekten mit zwölf Wohnungen bis zu Großprojekten wie dem Kellertheater-Quartier an der Rödgener Straße mit 320, den Studentenwohnungen an der Bernhard-Itzel-Straße mit 350 Wohnungen oder dem Motorpool-Gelände hinter der Grünberger Straße, wo bis zu 300 Wohnungen geplant sind. Dort ist der Baufortschritt sichtbar.
Das ist nicht überall so, weil Investoren aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Projekte auf Eis gelegt haben. Dort, wo das Stadtparlament Sozialquoten in den Bebauungsplänen verankert hat, geht es auch mit dem Sozialwohnungsbau momentan nicht weiter. »Wir machen keinen Druck, das würde auch keinen Sinn machen«, sagt Weigel-Greilich, zumal Hölscher versichert: »Die Bauträger bleiben am Ball.«
Zu den besagten etwa 40 Projekten hat das Planungsamt im Innenbereich weitere vier Objekte mit einer »mittelfristigen Umsetzungsperspektive« ausgemacht, darunter als größtes mit 400 Wohnungen ein weiteres Studentenheim im Bereich Grünberger Straße/Heyerweg, sowie ein Vonovia-Projekt mit 90 preisgünstigen Einheiten im Bereich Frankfurter Straße/Hollerweg. Hinzu kommen fast 370 Baulücken, die ein Potential von über 800 Wohnungen bieten. Alles in allem kommt man auf etwa 3800 zusätzliche Wohnungen, die nach Überzeugung der Stadt auch gebraucht werden. Die Bevölkerungprognose, wonach 2030 in Gießen 94 400 Menschen mit erstem Wohnsitz leben werden, und zwar ohne die Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung, hält man im Planungsamt für »weiterhin realistisch«.
Gutachten für Wohnungsbau in Gießen: „Das kostet natürlich auch mehr Zeit“
Dass Hölscher und seine Mitarbeiter seltener im Bauausschuss anwesend sind als früher, bedeutet nicht, dass dem Planungsamt die Arbeit ausgeht. So ist das Amt momentan mit der Aufstellung gleich mehrerer stadtweiter Planungen befasst. Neben dem Verkehrsentwicklungs- und Nahverkehrsplan geht es - nach zehn Jahren - um eine Überarbeitung des Zentrenkonzepts, in dem die Bedarfe für die Lebensmittelversorgung und den Einzelhandel abgebildet werden. Hinzu kommt laut Hölscher, dass Planungsverfahren noch aufwendiger geworden sind, weil nun Aspekte wie Klimaschutz neu und Verkehrsvermeidung oder Artenschutz verstärkt berücksichtigt werden müssen.
Die Konflikte über den Verbrauch natürlicher Ressourcen würden »härter« und müssten durch Gutachten entsprechend begleitet werden. »Das kostet natürlich auch mehr Zeit«, sagt Hölscher. Er nennt die Erweiterung von Bieber+Marburg als ein Beispiel für solche aufwendigen Entscheidungsprozesse.
Im gewerblichen Bereich istdie Lage »deutlich besser« alsbeim Wohnen. Die Stadt verzeichnet eine anhaltend hohe Nachfrage von ansiedlungswilligen Unternehmen. Die zügige Vermarktung der Flächen im kleinen gewerblichen Bereich des Wohn- und Gewerbegebiets Philosophenhöhe (früher Motorpool) zeige dies. Allerdings würden auch die Gewerbeflächen in Gießen knapp. Weigel-Greilich und ihr Amtsleiter gehen davon aus, dass demnächst das »Katzenfeld« in der Weststadt, das von der Gießener Revikon GmbH entwickelt wird, mehr in den Fokus rücken wird, nachdem die Pläne der Revikon mit Garbenteich-Ost ins Stocken geraten sind. Beim »Katzenfeld« geht es um 15 Hektar Gewerbefläche.
Gießen: Zwischen Karstadt und Brandplatz
Beim Gail-Areal im Schiffenberger Tal wartet die Stadt auf eine Rückmeldung des Eigentümers aus Berlin, »was er dort machen will«. Wohnen und großflächiger Einzelhandel kommen für die Stadt allerdings weiterhin nicht in Frage. Der Eigentümer, der die Flächen offensichtlich unter einer falschen Nutzungserwartung erworben habe, komme um eine Wertberichtigung kaum herum. Hölscher betont: »Wir unterstützen die Entwicklung dieser Fläche, wo wir nur können.«
Ein Gießener Sorgenkind ist Karstadt. »Wir haben uns intern alle möglichen Gedanken gemacht und sind auf verschiedene Szenarien vorbereitet, aber wir müssen abwarten«, sagt Hölscher. Der Standort sei weiterhin attraktiv, das Parkhaus erst kürzlich saniert worden.
Am anderen Ende der Fußgängerzone darf sich das Planungsamt kreativ austoben. Im Prozess zum Umbau des Brandplatzes sind mittlerweile drei Planerbüros in der engeren Auswahl. In den nächsten Monaten soll die Entscheidung fallen, welche Variante von der Stadt weiterverfolgt wird. Bis 2025 soll aus dem Parkplatz ein Platz zum Aufenthalt und für größere Veranstaltungen werden. Der Wochenmarkt bleibt gesetzt. (mö)