»Bilder sind kaum zu ertragen«

Erst war von einem Jahrhundert-Erdbeben die Rede, nun wird schon von einer Jahrtausend-Katastrophe gesprochen. Das gewaltige Beben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens sorgt auch in Gießen für große Betroffenheit - auch bei vielen Kurden, die hier leben. »Die Lage ist absolut katastrophal«. sagt Mehmet Tanriverdi, Vizevorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, die in Gießen ihren Sitz hat.
Herr Tanriverdi, Sie stammen aus Siverek im kurdischen Südosten der Türkei, Inwieweit ist Ihre Heimatregion von dem Erdbeben betroffen?
Die Gegend, aus der ich stamme, liegt etwa 150 bis 200 Kilometer vom Epizentrum des Bebens entfernt. Es gibt Zerstörungen, aber keine Toten. 50 Kilometer weiter westlich sieht das aber schon anders aus.
Geben Sie uns einen Überblick.
Die meisten Toten und Verletzten sind in den Kreisstädten Pazarcik und Elbistan in der Provinz Maras zu beklagen. Ebenso schlimm sieht es in Adiyaman und Islahya, einer Grenzstadt zu Syrien, aus. Die Provinzstädte im türkischen Teil der kurdischen Region Gaziantep, Maras und Adiyaman, sowie im syrischen Teil von Afrin bis Aleppo werden vor allem von Kurden bewohnt.
Haben Familien aus der kurdischen Community in Gießen Tote zu beklagen?
In Gießen kenne ich bis jetzt noch keinen Fall, hoffentlich bleibt das so. Aber wir müssen wohl leider mit viel mehr Opfern rechnen, als es bis jetzt bekannt ist. Viele Regionen, in denen Kurden und Aleviten leben, liegen im Bereich des Epizentrums. Heute Morgen (Anmerkung der Red.: Donnerstagmorgen) waren es schon über 16 000 Tote, und es werden stündlich mehr. Die Bilder der Zerstörung und des Leids der Menschen, die uns erreichen, sind kaum zu ertragen. Die Lage ist absolut katastrophal.
Was hören Sie, ob und welche Hilfe in den betroffenen Gebieten bislang ankommt?
In den ländlichen Gebieten auf der türkischen Seite sind noch gar keine Rettungsdienste angekommen. Der türkische Staat war nicht präsent in den ersten Tagen nach dem Beben. Noch am Mittwoch gab es Videos auch aus größeren Städten, die Plünderungen von Supermärkten zeigten. Für die von Kurden bewohnten Gebiete in Nordsyrien wie Afrin gibt es keinerlei Hilfe von außen. Die Menschen sind auf sich allein gestellt. Die internationale Gemeinschaft muss die Staatspräsidenten Erdogan und Assad bewegen, in den Grenzregionen internationale Hilfe uneingeschränkt zuzulassen und jede kriegerische Handlung zu unterlassen.
Es gab Bilder von äußerlich scheinbar kaum zerstörten Hochhäusern, die dann aber trotzdem innerhalb weniger Sekunden wie Kartenhäuser zusammengefallen sind. Dies habe nicht nur etwas mit der Stärke des Erdbebens zu tun, sagen Kenner der örtlichen Verhältnisse. Mit was noch?
Das hat auch mit Baumängeln zu tun, für die die Baufirmen, aber vor allem die Bauaufsichtsbehörden die Verantwortung tragen, der türkische Staat also. In der Türkei wurde nach der Katastrophe von 1999 eine Erdbebensteuer erhoben und fast 40 Milliarden US-Dollar eingenommen. Eigentlich sollte mit dem Geld das erdbebensichere Bauen gefördert werden, aber das Geld wurde zweckentfremdet oder ist einfach verschwunden.
Überall in Deutschland sind Hilfsaktionen angelaufen, auch in Gießen. Wie stellt man sicher, dass diese Hilfe auch bei den Betroffenen ankommt?
In den vom Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei gilt der Ausnahmezustand, Nichtregierungsorganisationen haben keinen Zutritt. Da kann man nicht einfach mit einem privat organisierten Hilfskonvoi reinfahren. Das läuft alles über staatliche Stellen und den türkischen Halbmond. Es wäre natürlich sinnvoll, Hilfsgüter in enger Abstimmung mit den Bürgermeistern vor Ort zu verteilen.
Auch die Kurdische Gemeinde Deutschland hat einen Spendenaufruf veröffentlicht. Wie stellen Sie denn sicher, dass die Spendengelder bei den Menschen in den Erdbebengebieten ankommen?
Wir verfügen über gute Kontakte und können auf bewährte Netzwerke zurückgreifen, sowohl im Südosten der Türkei als auch in den selbstverwalteten Kurdengebieten in Nordsyrien. Mit dem Geld werden Hilfsgüter und Lebensmittel direkt vor Ort bei Händlern eingekauft und bedarfsgerecht verteilt. FOTO: SCHEPP
