1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

Belastung am Landgericht Gießen: Sieben weitere Richterstellen nötig

Erstellt:

Von: Kays Al-Khanak

Kommentare

_085533
Der Schein der leeren Gänge trügt: Die Arbeitsbelastung im Landgericht Gießen ist weiterhin hoch. © Kays Al-Khanak

Auch in Gießen macht sich der Personalmangel in der Justiz deutlich bemerkbar. Mit Blick auf die aktuelle Belastung wären sieben weitere Richterstellen am Landgericht Gießen nötig.

In der hessischen Justiz rumort es. Nachdem bereits die Landgerichte in Darmstadt und Frankfurt erklärt hatten, an der Grenze der Belastbarkeit zu agieren, hat nun auch das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt vor möglichen schweren Folgen des Personalmangels bei parallel steigender Belastung gewarnt. Ähnlich sieht es am Landgericht Gießen aus, bestätigt dessen Sprecher Alexander Schmitt-Kästner auf Anfrage dieser Zeitung. »In Anbetracht des Arbeitsanfalls haben wir sieben Richterstellen zu wenig.« Dies sei auf Dauer nicht leistbar, betont er.

Landgericht Gießen: Belastung auch an anderer Stelle

Wer wissen will, wie die Arbeitsbelastung am Landgericht Gießen aussieht, muss sich mit »PEBB§Y« auseinandersetzen. Das klingt erstmal niedlich, ist aber reine, kalte Statistik. Denn es handelt sich um ein System, das den Personalbedarf für die Justizbehörden ermittelt. Und dieses System spricht für Gießen eine deutliche Sprache: Mit Stand 31. Dezember 2021 gibt es am hiesigen Landgericht 27,5 Richterstellen. Benötigt werden aber 35, um die Arbeit zu leisten. Die Belastung der Gießener Richter liegt laut Schmitt-Kästner aktuell bei 127 Prozent.

Im November hatte Präsidentin Sabine Schmidt-Nentwig im Jahrespressegespräch noch recht diplomatisch gesagt, dass eine Arbeitsbelastung von über 100 Prozent »normal« für hessische Landgerichte sei. »Im Hessenvergleich gehören wir auch nicht zu den am stärksten belasteten Gerichten, aber in die obere Hälfte.« So stiegen die Verfahren der Strafkammern von 660 (2019) auf 802 an. Die Zivilkammern verzeichneten 2020 insgesamt 2497 erstinstanzliche Eingänge (2019: 2507).

Natürlich spielt die nicht deutlich abnehmende Zahl der Verfahren eine Rolle, wenn man über die Mehrbelastung an den Gerichten spricht. Es gibt aber noch weitere Faktoren: Die Zahl der Dieselverfahren ist zwar leicht rückläufig, wie Schmitt-Kästner sagt. Aber sie binden weiterhin Kapazitäten in den Zivilkammern. »Es müssen Schriftsätze mit 150 bis 200 Seiten durchgearbeitet werden«, sagt der Gerichtssprecher, der im Zivil- und im Strafbereich tätig ist. »Und ein Richter muss immer die gesamte Akte im Blick haben.«

Hinzu kommt, dass immer mehr Arbeitskraft aus den Zivilkammern in die Strafkammern verlegt werden muss. Denn dort werden die Verfahren komplexer. Gerade in Gießen gab und gibt es wiederholt aufwendige Prozesse: Die Verurteilung hinter den Köpfen der Onlinedrogenplattform im Darknet, Chemical Revolution, zum Beispiel. Das wegen mehrfacher Coronaerkrankungen geplatzte Verfahren gegen mutmaßlich betrügerische Kanalreiniger, die Verfahren rund um die Proteste im Dannenröder Forst oder aktuell der Mordprozess, bei dem die Leiche des Opfers bis heute nicht gefunden werden konnte. Man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass mit Ermittlungserfolgen wie dem Hacken von Krypto-Chatdiensten, die von Kriminellen genutzt werden, die Komplexität der am Gericht geführten Verfahren nicht kleiner wird.

Und es fehlt ja nicht nur an Richterstellen: Bei den Wachtmeistern ist die Belastung ebenfalls hoch; sie liegt laut »PEBB§Y« bei 123 Prozent. Auch der Mittelbau des Landgerichts wie die Mitarbeitenden in den Geschäftsstellen oder im Schreibdienst seien von der Mehrbelastung betroffen, sagt Schmitt-Kästner. Bisher werde dies von allen Seiten mit Mehrarbeit kompensiert. Folge sei aber auch, dass Verfahren später anfangen oder länger dauern als geplant oder gewünscht. Das ist nicht nur misslich für die Justiz, sondern auch für die Menschen, die im Gericht als Beteiligte auftreten - sei es als Kläger oder als Angeklagte.

Die Lösung ist einfach - und schwer zugleich: »Mehr Stellen schaffen, mehr Personal einstellen«, sagt Schmitt-Kästner. Nur: »Dafür werden wir einen langen Atem brauchen.« Denn das Landgericht Gießen ist nicht das einzige in Hessen, das Bedarf an mehr Personal hat. Der Ball liegt beim Land, das sich auch unter Haushaltsgesichtspunkten Gedanken machen muss, wie sich ein weiterer Stellenausbau in der Justiz finanzieren lässt.

Die Gerichte stehen aber noch vor einer weiteren Herausforderung: Wenn Beschuldigte länger als ein halbes Jahr in Untersuchungshaft sitzen, kann diese aufgehoben werden. Denn nach einem halbem Jahr muss die Akte dem OLG vorgelegt werden; dort findet dann eine Haftprüfung statt. Geschehen sei eine Entlassung aus diesem Grund in Gießener Verfahren noch nicht, betont Schmitt-Kästner. Dennoch: »Dieser Punkt macht allen Beteiligten Sorge, weil es das Personal braucht, damit diese Verfahren auch beginnen können.«

Landgericht Gießen: Das sagt das hessische Justizministerium

Justizministerin Eva Kühne-Hörmann sagt auf Anfrage dieser Zeitung, »nur eine leistungsfähige, personell und sachlich gut ausgestattete Justiz ist in der Lage das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat zu gewährleisten«. Es sei ihr ein Anliegen, »stetig für Verbesserungen im Stellenbereich zu sorgen, soweit dies die Haushaltslage zulässt«. In einem seit 2014 bestehenden Aufbauprogramm seien Stellenstreichungen der Vergangenheit rückgängig gemacht und neue Stellen geschaffen worden. Zukünftig sollen »zusätzliche Richterinnen und Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte die hessischen Gerichte und Staatsanwaltschaften unterstützen«. Das Ministerium werde »die zeitnahe Nachbesetzung von Stellen, die durch Ruhestandseintritte, Abordnungen oder aus sonstigen Gründen frei werden«, gewährleisten - auch in Gießen.

Auch interessant

Kommentare