Barrierefreiheit noch weit entfernt

Gießen (ige). Gesagt hat es Sven Germann, Vorsitzender des Behindertenbeirates, in der Sitzung des Fahrgastbeirates: »Auch wenn die meisten von uns noch immer mehr oder weniger gesund sind, muss uns bewusst sein, dass das von heute auf morgen vorbei sein kann.« Auf der einen Seite gibt es dann barriere- arme oder barrierefreie Wohnungen. Doch was den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angeht, ist die Barrierefreiheit weiterhin ein großes Thema - wie in der letzten Sitzung des Fahrgastbeirates.
Stufenfreier Einstieg oft nicht möglich
Im Personenbeförderungs-gesetz heißt es in Paragraf 8 Absatz 3 zur Förderung der Verkehrsbedienung und Ausgleich der Verkehrsinteressen im ÖPNV: »Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des ÖPNV bis zum 1.1.2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen.« Aufgeweicht wird diese Vorgabe dadurch, dass die Frist nicht gilt, wenn in dem Nahverkehrsplan (NVP) Ausnahmen konkret benannt und begründet werden. »Im NVP werden Aussagen über zeitliche Vorgaben und erforderliche Maßnahmen getroffen.« Doch die Ausnahmeregelungen seien im gültigen NVP aus dem Jahr 2014 nicht angewendet worden, sagte Fahrgastbeirats-Co-Vorsitzender Patrik Jacob.
Die Stadt Gießen sei also entweder davon ausgegangen, den Umbau bis Anfang 2022 abgeschlossen zu haben - oder der NVP weise einen formalen Mangel auf. Für dieses und auch nächstes Jahr ist der Umbau von jeweils acht Abfahrtpositionen an Haltestellen geplant (siehe Info-Kasten).
Ein Kriterium für barrierefreie Nutzung heiße »grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar.« Also alles seit dem 1. Januar 2022 kein Problem mehr? Leider nein, denn die Umsetzung hinke hinterher. Bei dem vor einigen Wochen von der Stadt vorgestellten Umbauprogramm würde es noch weitere 25 Jahre dauern, bis die Barrierefreiheit gegeben sei. Teilweise Probleme machten die Ansagen in den Bussen - weil sie zu leise, unverständlich oder nicht aktuell seien. Die Außenanzeigen seien teilweise zu klein, schlecht lesbar, ungenau. Das Zwei-Sinne-Prinzip - sehbar und hörbar - gebe es lediglich an wenigen Haltestellen mit Abfahrtsanzeigen.
Blindenleitstreifen fehlten an sehr vielen Haltestellen oder entsprächen nicht den Standards. Vor allem sei der stufenfreie Einstieg an den meisten Haltestellen noch nicht möglich. Mit 47-prozentigem Anteil sei noch nicht einmal die Hälfte mit Hochbords ausgestattet. Dabei sei deren Anteil in den letzten zwei Jahren lediglich um zwei Prozentpunkte gewachsen.
Germann kritisierte: »Da hat sich in den letzten Jahren sehr wenig getan.« Für Samuel Groß, den Behindertenbeauftragten der Stadt, ist es »unbedingt vonnöten, das Personal der Busse stärker zu sensibilisieren«, um auf die Bedürfnisse der behinderten Fahrgäste einzugehen. »Wenn es die eigene Großmutter wäre, wären sie freundlicher.« Barrierefreier Einstieg helfe nur dann, wenn die Busse auch an der richtigen Stelle hielten. Das bedeute mit der vorderen Einstiegstür am Einstiegsfeld. Das Zwei-Sinne-Prinzip gibt es lediglich an zwei Haltestellen. Am Bahnhof am Bahnsteig 1 für die Züge und alle Buslinien und nunmehr auch an dem neu erbauten Bussteig auf der Kongresshallenseite am Ber- liner Platz.
Unwidersprochen blieb im Fahrgastbeirat die Feststellung, dass das Ziel der Barrierefreiheit im ÖPNV immer noch weit weg ist. Da sei noch viel altes Denken im Spiel, meinte Germann.