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Aus Bürgern werden Einwohner

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Von: Burkhard Möller

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Die Bürgerbeteiligungssatzung der Stadt Gießen war die erste ihrer Art in Hessen - und fiel auf dem kommunalverfassungsrechtlichen Prüfstand durch. Nun ist das Regelwerk überarbeitet worden. Die Teilhabemöglichkeiten sollen gewahrt bleiben. Geändert haben sich die Begriffe: Aus Bürgern sind Einwohner geworden.

Wenn Politiker die Bevölkerung ansprechen, ist meistens von den »Bürgerinnen und Bürgern« die Rede. Strenggenommen werden bei dieser Ansprache ganz schön viele Menschen vergessen: Alle Minderjährigen und alle, die keinen deutschen Pass haben. »Im juristischen Sinne sind Bürger und Bürgerinnen nur die Wahlberechtigten«, klärte Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher am Dienstag die Öffentlichkeit in der Pressekonferenz des Magistrats auf.

Bei dem Thema, um das es ging, kommt es auf solche begrifflichen Feinheiten an. Die Rede ist von der Gießener Bürgerbeteiligungssatzung, die seit einem Jahr ausgesetzt ist, weil sie in wesentlichen Teilen von der Kommunalaufsicht des Gießener Regierungspräsidiums beanstandet worden war. Eine Beanstandung, die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof bestätigt wurde, was den neuen Oberbürgermeister veranlasste, sie gemäß einem Auftrag der Stadtverordnetenversammlung überarbeiten zu lassen. »Der Anspruch, dass wir mit dieser Satzung das Vertrauen zwischen Einwohnerschaft, Verwaltung und Politik stärken wollen, bleibt«, betonte der SPD-Rathauschef im Beisein von Rechtsamtsleiterin Sonja Schmitz und Pressesprecherin Claudia Boje.

Rechtskräftig beanstandet worden war das weit über Gießen hinaus beachtete Regelwerk unter anderem, weil das RP die Rechte des Stadtparlaments durch Instrumente wie den Bürgerantrag oder die Pflicht, Bürgerfragen in den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung zu beantworten, zu stark beschnitten sah. Becher hofft, dass er diese Bedenken durch Änderung von Begrifflichkeiten und den Einbau von Umwegen, die die Einwohner mit ihren Anliegen über das Stadtparlament nehmen müssen, ausräumen konnte. So sehen müssen das zunächst die Stadtverordneten selbst, die am 24. Februar über das Inkrafttreten der neuen »Einwohnerbeteiligungssatzung« entscheiden sollen. Grundsätzliche Vorbehalte gegen ein solches Regelwerk zur Einwohnerbeteiligung gibt es in den Fraktionen nicht.

Magistrat und Ortsbeirat außen vor

Als stärkstes Instrument der alten Satzung galt der Bürgerantrag, aus dem nun die »Einwohnerpetition« geworden ist. Finden sich mindestens ein Prozent der Gießener Einwohner zusammen, können sie ihr Anliegen, das sowohl die Gesamtstadt als auch nur einen der fünf Stadtteile betrifft, an die Stadtverordnetenversammlung richten. In den Ortsbezirken müssen es mindestens 50 Einwohner sein, die das Anliegen unterstützen. Der Magistrat und die Ortsbeiräte, die in der alten Satzung noch zwischengeschaltet waren, tauchen als Organe in dem neuen Regelwerk gar nicht mehr auf. Auch damit wird die herausgehobene rechtliche Stellung des Stadtparlaments betont.

Angewendet und öffentlich wahrgenommen wurde vor allem der Bürgerantrag. Den Beschlüssen des Stadtparlaments zur Klimaneutralität Gießens bis 2035 oder zum Verkehrsversuch auf dem Anlagenring lagen Bürgeranträge zugrunde. Weitere, darunter zum Thema Straßenbahn, liegen seit einem Jahr auf Eis, haben allerdings das Quorum von einem Prozent (ca. 900 Unterschriften) noch nicht erreicht.

Bürgerfragestunde kehrt zurück

Eingefroren wurde auch die Bürgerfragestunde, die es lange vor Einführung der Bürgersatzung gab. Grundlage war die Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung. Auch diese Informationsmöglichkeit soll in Form einer »Einwohnerfragestunde« wiederbelebt werden, die aber nur von Gießenern genutzt werden kann. Die Bürgersatzung hatte das Fragerecht auf das gesamte Kreisgebiet ausgedehnt. Die Fragestunde soll aber nicht mehr Bestandteil der Tagesordnung von Ausschüssen und Plenum sein, sondern vor oder nach der eigentlichen Sitzung stattfinden. Die Geschäftsordnung muss daher angepasst werden.

Die Einwohnerbeteiligungssatzung enthält aber auch Neues: Zum Beispiel eine »vorhabenbegleitende Einwohnerbeteiligung«, die die Einberufung themen- und projektbezogener »Einwohnerräte« beinhaltet. Zudem räumt die neue Satzung dem Stadtparlament die Möglichkeit ein, ein sogenanntes Vertreterbegehren auf dem Weg zu bringen, das in der Hessischen Gemeindeordnung verankert ist. Es ist das Äquivalent zum Bürgerbegehren, das es zuletzt zum Schwanenteich gegeben hatte.

Dieses Beispiel zeigt, dass die Bürgerbeteiligung auch ohne städtische Satzung möglich war, wobei das in der hessischen Kommunalverfassung verankerte Bürgerbegehren bedeutet, dass die Einwohner ihre Gemeindevertreter sogar überstimmen können. Allerdings sind die Hürden auch höher; das Unterschriften-Quorum liegt bei fünf Prozent.

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