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Amokläufe an Schulen: So ist Gießen für den schlimmsten Fall gewappnet

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Von: Kays Al-Khanak

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Anfang 2014 ist auch die Brüder-Grimm-Schule in Kleinlinden von einem Amok-Drohanruf bedroffen. Ein Großaufgebot der Polizei durchsucht jedes Klassenzimmer und sichert auch das Gebäude von außen. (ARCHIVFOTO: SCHEPP) © Oliver Schepp

Die perfekte Vorbereitung auf den schlimmsten Fall gibt es nicht. An Schulen in Hessen gibt es zwar grundsätzliche Handlungsanweisungen, ein Amoktraining allerdings nicht.

Gießen – Der Amoklauf an einer Grundschule in Texas wirkt noch immer nach. Richtig vorbereiten kann man sich auf solche Taten nicht. In Hessen gibt es für Schulen eine Handreichung zum richtigen Verhalten in Krisensituationen. Doch ein Amoktraining wie in den USA gibt es hier nicht.

Ein Freitag im Januar 2014. Gegen 9.20 Uhr klingelt in der Ricarda-Huch-Schule (RHS) das Telefon. Der Anrufer droht mit einer Amoktat in der Gesamtschule - in 40 Minuten. Die Schule nimmt den Anruf ernst und reagiert sofort: Die Polizei wird alarmiert, ein Teil der Kinder und Jugendlichen verlässt das Gebäude Richtung Kirchenplatz, Lehrkräfte schließen Klassenzimmer ab und verstecken sich dort mit Schülern. An der Max-Weber- und der damaligen Friedrich-Feld-Schule werden Schüler per Lautsprecherdurchsage aufgefordert, wegen besonderer Vorkommnisse an der Nachbarschule in den Klassenräumen zu bleiben. Am Ende stellt sich der Anruf als ganz, ganz schlechter Scherz heraus - genauso wie ein Anruf mit einer Amokdrohung in der Brüder-Grimm-Schule einen Monat später. Der Jugendliche, der in der RHS angerufen hatte, wird gefunden und vor dem Amtsgericht Gießen zu einer Jugendstrafe verurteilt.

Gießen: Größtmögliche Aufmerksamkeit für Amokläufe

Die Kriminologin Britta Bannenberg von der Uni Gießen hatte die bittere Wahrheit nach der jüngsten Amoktat in einer texanischen Kleinstadt in der vergangenen Woche ausgesprochen: Amoktäter suchten sich Orte wie Schulen aus, weil sie sich größtmögliche Aufmerksamkeit erhoffen. Auch wegen Taten wie in Erfurt in 2002 oder Emsdetten in 2006 haben viele Kultusministerien Handreichungen für den Krisenfall an Schulen ausgegeben. Darin festgehalten sind Verhaltensanweisungen für Notfälle wie Bombendrohungen, Feuer, Geiselnahmen, Gewalttaten, Suizid und Amoktaten. In Hessen ließ das Land ab 2007 an alle Schulen die Handreichung »Handeln in Krisensituationen« verteilen, die mittlerweile zum fünften Mal überarbeitet worden ist.

Der Leiter des Staatlichen Schulamts in Gießen, Norbert Kissel, erklärt, dass dieser Leitfaden auf Dienstversammlungen diskutiert und in Fortbildungen vertieft werde. Bereits 2011 hatte Bannenberg darauf hingewiesen, dass es unklar sei, welchen Lehrkräften und Schulleitungen »die Handreichung mit Kriterien zur Abklärung einer Drohung inhaltlich bekannt ist. Es entstand der Eindruck, in Schulen werde diese Handreichung vor allem als Leitfaden für den Ernstfall, also für Amoktaten, Ausbruch von Feuer und anderem wahrgenommen« - und eben nicht für die Prävention, mit der solche Taten weit im Vorfeld verhindert werden können.

Gießen: Umsichtiges Handeln bei Angriffen wichtig

Komme es dann doch zu gewalttätigen Angriffen, sei es wichtig, umsichtig zu handeln und klare und eindeutige Anweisungen zu erteilen, um Schüler, Lehrkräfte und weiteres Schulpersonal nicht zusätzlich zu verunsichern und zu ängstigen, sagt Kissel. »Die konkreten Empfehlungen des Leitfadens werden der breiten Öffentlichkeit aber nicht zugänglich gemacht, damit sich mögliche Täter nicht mit den Handlungsempfehlungen der Schulen beschäftigen können, um diese dann in ihren Tathergang einzuplanen.«

Bannenberg betont, dass es bei einer selten vorkommenden Amoktat darum gehe, »durchzuhalten, sich zu verbarrikadieren und aus der Schusslinie zu bringen«. Kissel sagt, die Lehrkräfte könnten die Unterrichtsräume abschließen. Mehrere Schulen hätten inzwischen ein Knaufsystem, damit sich die Türen von außen nicht öffnen lassen. Das Polizeipräsidium Mittelhessen biete zudem sicherheitstechnische Begehungen an. Deren Ergebnisse würden wenn möglich bei Umbauarbeiten oder Neubauten berücksichtigt.

Gießen: Durchsage sollten früher mit Code auf Amoksituation hinweisen

Als am 19. Mai ein junger Mann in ein Gymnasium in Bremerhaven eindrang und mit einer Armbrust auf eine Mitarbeiterin schoss, löste die Schule sofort Amokalarm aus. Schüler berichteten, dass mehrfach die Durchsage »Herr Koma, bitte kommen Sie« über die Lautsprecher zu hören war. Koma ergibt rückwärts gelesen das Wort Amok. Wie Lehrkräfte verschiedener Gießener Schulen gegenüber dieser Zeitung bestätigen, habe es solche Codes bei ihnen auch gegeben - früher. Heute, sagt Kissel, werde davon abgeraten, »weil nicht gewährleistet werden kann, dass alle in der Schule tätigen Personen den jeweils aktuellen Code kennen«. In der Regel erfolge die Information durch eine Durchsage. »Diese muss konkrete Handlungsanweisungen beinhalten, die alle in der Schule sofort verstehen und umsetzen können«, sagt Kissel. Eine Gießener Lehrkraft bestätigt, dass die Durchsagen an ihrer Schule explizit auf solche Ausnahmesituationen hinweisen sollen.

In der Praxis übernimmt die Polizei die Beurteilung der Relevanz von Drohungen. Bannenberg weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der frühzeitigen Prävention im nahen Umfeld eines möglichen Amoktäters hin. Dazu gehöre auch das Wahr- und Ernstnehmen von diffusen Äußerungen in der Schule. Deshalb seien die in Hessen verpflichtenden schulischen Krisenteams wichtig. Laut Kissel bestehen diese aus Mitgliedern der Schulleitung, Lehrkräften mit besonderen Aufgaben wie den Brandschutzbeauftragten, Sekretariat, Hausmeister sowie gegebenenfalls Schulsozialarbeit, Schulseelsorge und Elternvertretung. Sie erstellten und aktualisierten den Krisenplan, der regelmäßig mit den Lehrkräften und dem Schulpersonal besprochen werde. Zudem würden die Mitglieder durch die Schulpsychologie geschult.

Amoktraining in Gießen: Sensibilisierung gewünscht

In den USA findet an Schulen mindestens einmal im Jahr ein Amoktraining statt. Bannenberg sieht solche Übungen kritisch, weil sie die Tat an sich nicht verhindern könnten. Lehrkräfte hingegen äußern gegenüber dieser Zeitung den Wunsch, durch solche Übungen sensibilisiert zu werden - analog zu Brandschutzübungen. Das Hessische Kultusministerium jedoch rät von einem Training zu einem Amokfall ab. Auf Anfrage sagt ein Sprecher, dass solche Übungen »insbesondere bei psychisch vorbelasteten Schülern potenziell negative Effekte haben können«. Schulamtsleiter Kissel ergänzt, Schüler könnten »verunsichert werden und Ängste entwickeln«. (Kay Al-Khanak)

Auch in der Innenstadt von Gießen ist man auf das schlimmste vorbereitet. Das Land Hessen hat Schutzvorrichtungen für Innenstadt-Feste in Gießen finanziert. Die Hindernisse sollen leichter, aber sicherer als die bis jetzt verwendeten Betonklötze sein.

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